Wolf von Niebelschütz - Die Kinder der Finsternis

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  • So, ich will Euch mal mein letztes Lesehighlight nicht vorenthalten, von dem ich gar nicht verstehe, warum es dazu hier noch keinen Thread gibt:


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    Wow, was für ein Buch. Wer im Buchladen vor dem Regal mit den historischen Romanen steht, dieses aussucht, aber eigentlich auf der Suche nach etwas im Stil von Gabaldon oder Gablé ist, dem sei gesagt: Lassen Sie die Finger davon! Sie halten ein Buch von einer inhaltlichen Vielfalt und sprachlichen Wucht in der Hand, mit dem sich kaum ein anderes Buch dieses Genres vergleichen lassen kann - und aktuelle Bestseller schon mal gar nicht.


    Zur Einstimmung gleich mal die ersten Sätze:


    Zitat

    Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen. Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin, als schmettere das Erdreich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht.
    Fünf Stunden donnerten die Gießbäche, Felsen und Schuttlawinen; die Bergflanke bebte. Fünf Stunden kauerte die Geliebte neben dem Gehaßten, unverletzt, naß bis zur Haut, frierend, obwohl es warm war. Fünf Stunden schrien und keilten hufoben die Mulis und rüttelten durch das verknäulte Geschirr den Wagenkasten, der ohne Räder hintüber auf dem Steinmeer saß, bedeckt von grauenvoller Dunkelheit.


    Erzählt wird die Lebensgeschichte des Schäfers Barral, der sich im 12. Jahrhundert im Lauf von Jahrzehnten und gegen alle Widerstände zum Herrscher über die Markgrafschaft Kelgurien hocharbeitet. Alle Figuren des Romans sind fiktiv, ebenso dieses Kelgurien mit all seinen Ortschaften, Herrschaftssitzen und geographischen Besonderheiten; allerdings ist es engstens der Provence nachempfunden, die Niebelschütz mehrfach intensivst auch zu Recherchezwecken bereist hat.


    Der Aufstieg des “Dachs von Ghissi” vollzieht sich vor dem Hintergrund seiner Herkunft als Bastard eines der ortsansässigen Fürsten. Schon als Junge führt er sich selbst bei Hof ein, von Anfang an mit dem Ziel, Lehensherr seiner Heimatregion zu werden. Im Laufe seines Lebens muss er sich mit der Machtpolitik der Fürstenhäuser, ihren Intrigen und immer wieder wechselnden Bündnissen ebenso befassen wie mit der Bedrohung durch maurische Machthaber in der Nachbarschaft und einem Klerus, der die geistliche über die weltliche Herrschaft setzen will. Das Pfand, mit dem er in all diesen Kämpfen wuchern kann, sind seine Grundsätze, die vor allem das Wohl seines Volkes im Sinn haben, seine Verbündeten, sein Volk und nicht zuletzt seine Frauen.


    Kinder werden nicht nur von ihm en masse in die Welt gesetzt und gelten nur selten als geliebte Nachkommenschaft, sondern vor allem als Möglichkeit, politischen Einfluss zu bewahren und zu mehren - sofern sie das Kindesalter überleben. Minnedienst, unsterbliche Liebe und Heiratspolitik sind hier unversöhnliche Gegensätze. Seine große Liebe bleibt Barral sein Leben lang versagt, aber andere Frauen aller Gesellschaftsschichten, jede für sich eine unverwechselbare Persönlichkeit, begleiten ihn durch die Jahrzehnte. Ebenso begleiten ihn Freunde und Gönner; der Markgraf, der zu seinem Protektor wird, der maurische Emir Salah, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbindet, der vergeistigte, aber menschenfreundliche Kardinal Guilhem und einige andere.


    Mit heutigem Politikverständnis und heutiger Moral ist diese Welt nicht zu begreifen, auch nicht mit den Darstellungen hochmittelalterlicher Gesellschaften, wie man sie aus handelsüblichen historischen Romanen kennt. Barral ist ein “guter” Herr, er sorgt für seine Leute, begreift sich selbst als “Bauer” im besten Sinne, der will, dass sein Land blüht, gedeiht und aus Kriegen herausgehalten wird. Dennoch ist er Teil der unglaublichen Brutalität und Willkür dieser Zeit, er bestraft und mordet aus Kalkül, er widmet sich sehr berechnend dynastischen Ränkespielen, glaubt aber auch an die Macht der kirchlichen Sakramente ebenso wie an die der archaischen Naturmagie. Die Willkür und Ignoranz mancher Entscheidungen ist für den modernen Leser oft schwer nachvollziehbar und wird durch die farbenprächtige, tiefgehende Einführung in die mitteleuropäische und maurische Kultur mit all ihren kulturellen, sozialen und religiösen Konflikten doch plausibel gemacht; nur so ist beispielsweise verständlich, warum Barral sich schließlich sogar aus eigenem Willen der Folter der Inquisition ergibt.


    Sprachlich ist dieses Buch ein Fest, voller Pathos und Überschwang; schon mit dem ersten Absatz wird man in diesen besonderen, farbenprächtigen, unglaublich vielfältigen gehobenen Stil hineingesogen, wie man ihn heute kaum noch jemals findet. Niebelschütz belebt ein schon fast vergessenes Vokabular, teilweise schöpft er sogar aus mittelhochdeutschen Ausdrücken; in meiner Taschenbuchausgabe hätte ich mir einen Anhang mit “Übersetzungen” gewünscht. Beschreibungen der Landschaften sind so plastisch, dass es der begleitenden Karte eigentlich gar nicht bedarf. Der Bogen der Erzählung zieht sich über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren, in denen Barral zum mächtigsten Herrscher der Region mit besten Beziehungen zum Stuhl Petri und zum Kaiser aufsteigt. Allerdings werden viele Jahre dieser Entwicklung aufs engste verkürzt und in wenigen Sätzen oder Absätzen zusammengefasst, während andere Episoden breitest ausgewalzt werden. So kommt der Leser immer wieder in den Genuss genauester Beobachtungen und Beschreibungen der damaligen Gesellschaft ebenso wie einzelner Begegnungen der Hauptpersonen, auch wird an drastischen Bildern von Folterungen und Qualen nicht gespart; temporeiche, fast atemlos wirkende Passagen werden so von Szenen abgelöst, die fast behäbig anmuten, ohne dabei jemals langatmig zu sein, und in denen auch der ganze Gefühlsüberschwang der Protagonisten zum Ausdruck kommt.


    Dieser Text ist keine Lektüre “für zwischendurch”, er erfordert Konzentration und ein Einlassen auf den besonderen Stil und die phantastische Bildwelt; dennoch wird man schon nach wenigen Seiten wissen, ob man ihn lieben oder hassen wird.


    Der Autor:
    Wolf von Niebelschütz, geboren 1913 in Berlin, war zunächst Kritiker, Redakteur und Journalist in seiner Heimatstadt, bevor er nach dem Zweiten Weltkrieg zum freien Schriftsteller avancierte. Neben einigen Gedichten und Dramen schrieb er nur zwei große Romane: “Der blaue Kammerherr” (1949) und “Die Kinder der Finsternis” (1959). Er war Mitglied der “Gruppe 47″ und starb bereits 1960 im Alter von nur 47 Jahren.


    Wertung:


    Ohne Abstriche 5ratten

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Dazu bleibt nicht mehr zu sagen als: schöne Rezension eines schönes Buches. Ich nehme mir seit Jahren vor, es endlich ein zweites Mal zu lesen, weil ich kaum mehr davon in Erinnerung habe, als daß es ein außergewöhnlich gutes Buch war.