Chris Cleave - Lieber Osama

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 1.916 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kirsten.

  • Hallo,


    zugegebenermaßen hat mich der Titel dieses Buches im ersten Moment abgeschreckt... Aber glücklicherweise ist es mir dann doch noch in die Hände gefallen!


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    Chris Cleave, Lieber Osama
    Rowohlt Verlag 2006, 3-498-00932-X, € 19,90


    Chris Cleave hat mit seinem Debut hier einen total ungewöhnlichen Roman vorgelegt: es ist die Geschichte einer jungen Frau, die bei einem fiktiven Anschlag auf ein Fußballstadion ihren Mann und ihren kleinen Sohn verliert.


    Die Ich-Erzählerin ist gerade beim Seitensprung auf der Couch vor dem heimischen Fernseher und erlebt so live mit wie beim Fußball-Lokalderby Arsenal gegen Chelsea beim Stand von 2:0 eine gewaltige Explosion die gesamte Heimtribüne mitsamt ihrer Familie wegreißt. Im kompletten Schockzustand vergisst sie sich selbst und eilt zum Ort des Anschlags und erlebt grausame Szenen auf der völlig illusorischen Suche nach ihrer Familie. Schließlich landet sie selbst im Krankenhaus und erlebt von dort all die Anti-Terror-Akte der Regierung, die beginnende und extrem ansteigende Paranoia der Londoner und die sofort (offensichtlich) einsetzenden Vorurteile und Repressalien gegen bestimmte Minderheiten mit.
    Gleichzeitig versucht sie ihren ganz persönlichen Schicksalsschlag mit viel Alkohol, Tabletten und eben auch einem Brief an Osama bin Laden zu verarbeiten...
    In schnoddrigem Stil und aus einer völlig naiven Perspektive heraus schildert sie in diesem Brief, was der Anschlag ganz persönlich mit ihr angestellt hat und wie sehr sich London im Zuge der allgegenwärtigen Panik, durch schnell verabschiedete (Schutz-) Gesetze, wie Ausgangssperren, und sonstige Anti-Terror-Aktionen verändert.


    Aber sie zeigt durch alle Tiefen hindurch – und mit all ihren Schwächen und Macken – dass sie diesem neuen Leben und all den Menschen um sie herum trotzig die Stirn bieten will: "Ich bin eine Frau, die sich auf ihren Trümmern immer neu erschafft... es war Zeit, sich wieder ins Leben zu stürzen."


    Keine Frage, das Buch von Chris Cleave ist ein Balanceakt zwischen bitterböse, provokant und auf der anderen Seite anrührend, mutig und hoffnungsvoll – es ist ein Buch von hohem Unterhaltungswert, das uns trotzdem zeigen will, was mit einer offenen Gesellschaft, die im Herzen getroffen wird, passieren kann.
    Besonders bemerkenswert fand ich übrigens, dass sich Cleave so wunderbar in die Erzählerin und deren Gefühlschaos hineinversetzten kann - anfangs war ich deshalb sogar noch ziemlich skeptisch, frei nach dem Motto "wie kann eigentlich ein so junger Typ in seinem Debut aus der Sicht einer Frau schreiben, die gerade solches durchmacht?" :rollen:



    Von Chris Cleave hätte ich definitiv gerne mehr zu lesen!
    4ratten



    Übrigens ist dem Ersterscheinungsdatum des Buches der tatsächliche Anschlag auf U-Bahnen und einen Bus in London zuvorgekommen – deshalb ist Lieber Osama in der Auslieferung gestoppt worden und erst dieses Jahr dann erschienen.

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Vielen, vielen Dank für die Rezi :klatschen:
    Ich liebäugele schon länger mit diesem Buch

    :leserin: Ozzy Osbourne - I Am Ozzy<br /><br /><br /><br />Never trust anything that can think for itself, if you can&#39;t see where it keeps its brain

  • Ich habe mit diesem Buch Vorgestern begonnen und ich empfinde diese Geschichte als sehr heftig. Ich kann das Buch nicht in einem Stück lesen und ich brauche nebenher noch andere Lektüre um wieder auf andere Gedanken zu kommen.
    Ich habe ungefähr ein Drittel gelesen und es fällt mir schwer zu sagen, dass mir das Buch gefällt, obwohl es wohl in die Richtung geht. Mich stört der Begriff gefallen, bei solch einem Thema. Das das Buch gut ist, erkenne ich allerdings daran, dass es mich auch noch beschäftigt, wenn ich längst nicht mehr am lesen bin. Die Briefeschreiberin war mir anfänglich eher unsympathisch - ein Mensch, mit dem ich wohl eher meine Freizeit nicht verbringen würde - aber das hat sich nach dem Anschlag alles relativiert. Jetzt sehe ich nur noch die Mutter, die ihr Kind verloren hat und das auf grausamste Art und Weise und damit irgendwie klar kommen muss. Das ist der ausschlaggebende Punkt, der es mir so schwer macht, weiterzulesen, weil es das Horrorszenario einer jeden Mutter ist. Natürlich bezieht sich das auch auf Menschen, die ihren Partner, Eltern oder wen auch immer verlieren, welche sie lieben.
    Ich finde es gut, dass die Briefeschreiberin so schreibt, wie sie auch reden würde. Das sagt sie auch zu Anfang. Dass sie kein Schreiber ist, aber sich jetzt einfach Luft machen muss und dies tut sie auch.

  • [size=13pt]Chris Cleave - Lieber Osama[/size]

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    OT: Incendiary
    OA: 2005
    304 Seiten
    ISBN: 978-3499258800


    Inhalt:
    Beim wichtigsten Fußballspiel des Jahres explodieren mitten im Londoner Arsenal-Stadion mehrere Bomben. Tausend Menschen sterben. Massenpanik. Paranoia. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Eine junge Frau verliert bei dem Terroranschlag ihren Mann und ihren Sohn. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt und Schockzustand macht sie sich in einem Brief an Osama bin Laden persönlich Luft. Und sie lässt dabei nichts aus ...


    Eigene Meinung:
    Dieses brisante Thema durch diese Protagonistin und ihre doch eher derbe Sprache kommentieren zu lassen, ist eine wahre Gratwanderung, denn sie schreibt wie ihr der Schnabel gewachsen ist und das grenzt zuweilen schon fast an Pietätlosigkeit. Die Betonung liegt hier aber auf „fast“. Die namenlose Erzählerin hat es mir wirklich sehr schwer gemacht, denn sie gehört mit Sicherheit nicht zu den Menschen, mit denen ich freiwillig auch nur eine Minute meiner Freizeit verbringen würde - aber genau das macht diesen Roman so außergewöhnlich. Diese Frau ist nämlich nicht nur das unschuldige Opfer, sondern hat auch eine ganze Menge schlechter Eigenschaften. Chris Cleave ist es gelungen, dass man mit diesem Menschen tiefstes Mitgefühl empfindet, welches sich sogar irgendwann in Sympathie umschlägt. Bei einer liebenswerten, zurückhaltenden, rationalen, ruhigen, gebildeten und introvertierten Person wäre der Effekt des Buches längst nicht so prägnant gewesen. Natürlich ist dies um so schlimmer, da eines der Opfer der vierjährige Sohn der Schreiberin war. Die Emotionen, bis hin zu nachfolgenden massiven psychischen Schäden und Störungen, sind hervorragend beschrieben und in Worte gefasst worden, so dass es einem selbst die Sprache verschlägt. Gerade die Briefform, macht dieses Attentat persönlich, denn es wird immer ganz klar hervorgehoben, dass dahinter einzelne Menschen stecken, welche sich bewusst dafür entscheiden, andere wahllos zu töten und auch vor Kindern keinen Halt machen.
    Die Schrecken des Terroranschlages nehmen einem fast den Atem, vor allem mit dem Wissen, dass dies in gewisser Weise keine Fiktion ist. Allerdings sind nicht nur der Anschlag und die unmittelbaren Auswirkungen fürchterlich. Cleave beschreibt auch die Gesellschaft, wie sie mit diesem Horror umgeht und das im öffentlichen, wie auch im privaten Bereich. Hier handeln Menschen, die eigentlich zu den „Opfern“ gehören, mit einer Kaltblütigkeit, die wirklich Angst macht.
    Das Fazit dieses Buch: Egal wie unausstehlich, hartherzig oder vulgär ein Mensch auch sein mag - niemals wird es Attentate rechtfertigen, welche nicht nur die Opfer, sondern auch die Überlebenden sukzessive in ihrem Menschsein zerstören und seelisch töten.
    Dieses Buch wird man nicht vergessen.


    5ratten

  • Meine Meinung

    Zu Anfang habe ich mir überlegt, ob Chris Cleave nicht doch eine Frau ist. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich ein Mann so sensibel in Herz und Kopf einer Frau im Ausnahmezustand hineinversetzen konnte. Aber nur wenig später kam eine so plumpe Sexszene, die mich davon überzeugte, dass Chris Cleave doch ein Mann war. Jetzt aber genug von den Klischees, denn eigentlich ticke ich nicht so.


    Incendiary hat es mir beim Lesen schwer gemacht. Die Szenen nach dem Bombenanschlag fand ich furchtbar. Es kam mir so vor, als ob ein Augenzeuge seine Erlebnisse und Gefühle beschreibt und nicht, als ob jemand eine fiktive Geschichte erzählt. Auch die Verwandlung, die London und seine Bewohner durchgemacht haben, sind bedrückend. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass die Familie keine Namen bekommen hatte. Es waren immer die Erzählerin, ihre Ehemann und der kleine Junge. Das hat mir deutlich gemacht, dass die Opfer nur für die unmittelbar Betroffenen wichtig sind. Für alle anderen sind sie eine graue Masse.


    Ab ungefähr der Hälfte hat die Geschichte mir weniger gut gefallen. Sie wirkte auf mich unrealistisch. Das fand ich schade, denn bis dahin hatte ich mit der Mutter mitgelitten. Erst das Ende hat mir klargemacht, dass dieser scheinbare Realitätsverlust etwas ganz anderes war.

    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Valentine

    Hat den Titel des Themas von „Chris Cleave, Lieber Osama“ zu „Chris Cleave - Lieber Osama“ geändert.