Franz Kafka - Amerika

Es gibt 89 Antworten in diesem Thema, welches 25.654 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von HoldenCaulfield.

  • Hi!


    Für den SUB-Listenwettbewerb 2007 habe ich endlich «Amerika» von Franz Kafka gelesen, das schon lange auf meinem SUB lag. Hier mein Fazit:


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    Inhalt:
    Karl Rossmann wird als 16-Jähriger aus dem elterlichen Haus geworfen und mit einem Schiff nach Amerika verfrachtet, wo er sein Glück versuchen soll. Er wird zunächst von seinem reichen Onkel aufgenommen, fliegt dort aber nach zwei Monaten wegen einer Nichtigkeit ebenfalls raus. Darauf beginnt Karl sich auf eigene Faust durchzuschlagen.


    Meine Meinung:
    Wieder mal eines jener Bücher, bei denen 1. jeder Protagonist einen kleinen bis mittleren Dachschaden hat und man sich 2. fragt, was der Mist überhaupt soll.
    Zur Verteidigung Kafkas muss ich hier allerdings sagen, dass «Amerika» kein fertiger Roman, sondern nur ein Fragment ist. Daher auch der komplett fehlende Schluss. Ausserdem wollte er (gemäss Klappentext), dass dieses Manuskript zusammen mit «Der Prozess» und «Das Schloss» nach seinem Tod verbrannt (statt posthum veröffentlicht) wird. Im Falle von «Amerika» hätte man seiner Bitte ruhig nachkommen dürfen.


    Ich kann mit dieser Art Literatur einfach nichts anfangen. Die Protagonisten benehmen sich durchs Band völlig irrational, die Dialoge sind entsprechend grauenhaft und die Geschichte ist grösstenteil völlig uninteressant. Auch die Schauplätze sind mir einfach zu absurd. So findet Rossmann Arbeit als Liftjunge in einem Hotel mit 30 Aufzügen und einer Kapazität von 5000 Gästen. Und das vor rund 100 Jahren. Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich könnte hier noch ellenlang weiter machen mit schlechten Beispielen, aber dafür ist mir die Zeit zu schade.


    Es das Recht eines jeden Autoren, die Welt so zu beschreiben, wie es für sein Buch praktisch ist - inklusive bescheuerter Charaktere. Und mein Recht als Leserin ist es, sowas für ziemlichen Mist zu halten. Was ich hiermit tue. Abhaken, vergessen.


    1ratten



    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo,


    die Besprechung von Alfa_Romea fordert mich gerade zu heraus, meine eigene Meinung zu diesem Buch kundzutun. Ich habe es im September 2006, also erst kürzlich, gelesen.


    Zunächst mal lässt sich dieses Buch recht einfach lesen und ist somit auch für Kafka-Einsteiger geeignet. Man darf jedoch bei Kafka (ebenso wie bei Thomas Bernhard) keine herkömmliche Geschichte mit einer stringenten, logischen Handlung erwarten. Kafka hat einen eigenen Stil entwickelt, der auch als kafkaesk bezeichnet wird. Was charakterisiert diesen Stil? Zunächst scheint es eine gewöhnliche Alltagsgeschichte zu sein, die vor sich hin plätschert. Doch plötzlich werden Sätze eingeschoben, die die Situation ins Absurde abschieben. Man fragt sich: Was ist denn nun passiert? Das erzeugt eine Spannung oder ich sage mal besser eine gewisse Faszination beim Lesen. Ich habe gerade dieses Buch stellenweise nicht aus der Hand legen wollen.
    Ob es sich um die Verwandlung in ein Ungeziefer handelt (in der wohl vielen Lesern bekannten gleichnamigen Erzählung) oder wie hier in Amerika um die verrückten Begebenheiten, die Karl Rossmann passieren, jedes Mal bleibt man verstört und fasziniert nach der Lektüre zurück. Besonders spannend fand ich zum Beispiel die Szene als Karl in einem Herrenhaus (oder ist es gar ein Schloss?) im Dunkeln herumirrt und nicht mehr den Ausgang findet. Wie er durch seinen Onkel verstoßen wird, ist auch sehr eindringlich geschildert und so absurd, dass man dies fast lächerlich finden kann. Ích finde es jedoch genial.


    Gerade in diesem Werk hat Kafka eine schöne Portion Humor eingebaut, man darf nicht alles so todernst nehmen und kann häufiger schmunzeln (Lachen wäre aber übertrieben). Man kann sich allein an diesem Stil erfreuen, aber auch inhaltlich werden in diesem Roman interessante Fragen angesprochen:
    - Wovon hängen Aufstieg und Abstieg in einer Gesellschaft ab? Welche Zufälle spielen dabei eine Rolle?
    - Was will ich im Leben erreichen? Wem kann ich vertrauen?
    - Leben wir nicht alle nur in einem Theater, in dem jeder seine Rolle spielt?


    Gerade diese letzte Frage wird im Schlusskapitel auf exemplarische Weise bearbeitet. Dass der Roman unvollendet ist, stört nicht weiter.


    Kafka-Lektüre ist vergleichbar mit einem modernen Kunstwerk aus der Malerei. Auch dies ist nicht sofort in allen Bestandteilen zugänglich und viele (einschließlich meiner Person) stehen oft ratlos davor. Aber dann spürt man in diesen Werken eine besondere Kraft. Und genauso wie die Bilder des 18. und 19. Jh. aus heutiger Sicht zu "brav" erscheinen, so muss Kafka eine "ganz normale" Geschichte einfach zu banal erschienen sein. Aber wie beschreibt man die moderne Zeit? Kafka zeigt es hier - und darauf muss man sich einlassen, genauso wie auf moderne Kunst.


    Fazit: 4ratten.


    Schöne Grüße,
    Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Ich kann beide Meinungen verstehen und auch beide Meinungen nachvollziehen.


    Nun werden sich einige fragen: Wie das denn? Nun ganz einfach. Ich hatte Kafka mit seinen drei Werken "Das Schloss", "Der Prozess" und "Amerika" als Spezialfrage bei meiner Deutsch Matura. Beim Lesen habe ich mir auch manchmal gedacht, so ein kompletter Mist.


    Doch dann hat mir meine Professorin Hintergrund Literatur gegeben, mir Fragen gestellt und mich ein wenig gefordert. Ich sollte was rauslesen aús den Werken und je mehr ich mich in das Buch vertieft habe, desto besser gefiel es mir.
    Am Anfang habe ich also Alfa Romeos Meinung geteilt, dann bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, dass es einfach nur genial ist. Daher stimme ich Klassikfreund voll und ganz zu.


    Katrin

  • Doch dann hat mir meine Professorin Hintergrund Literatur gegeben, mir Fragen gestellt und mich ein wenig gefordert. Ich sollte was rauslesen aus den Werken und je mehr ich mich in das Buch vertieft habe, desto besser gefiel es mir.


    Was waren das für Aspekte, die Du suchen solltest? Oder andersherum: Weißt Du denn noch ein paar der Fragen?
    Das wäre für mich jetzt mal interessant, wie gezielte Informationen zu den Hintergründen in diesem Fall das Verständnis beeinflussen. Denn die gegensätzlichen Rezis haben meine Neugier auf das Buch erst recht geweckt.

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  • Bettina: Im Grunde die Fragen, die Klassikfreund auch schon gestellt hat. Wirkliche Fragen weiß ich nicht mehr, es ging aber um die gesellschaftlichen Fragen der Zeit.


    Ich fand es damals sehr interessant, diese Fragen zu lösen. Aber am besten selber lesen. Das ist die Devise. :breitgrins:
    Ich würde das Buch aber wirklich nur mit Hintergrundlektüre lesen, denn alleine hat man sicher die Erfahrung wie Alfa sie gemacht hat.


    Katrin

  • [quote author=Jaqui]
    Ich würde das Buch aber wirklich nur mit Hintergrundlektüre lesen, denn alleine hat man sicher die Erfahrung wie Alfa sie gemacht hat.[/quote]


    Das ist eben genau der springende Punkt und der Grund, weshalb ich so unzufrieden bin: Für mich muss ein Buch aus sich heraus und ohne Hintergrundlektüre verständlich sein. Es darf auch gerne auf mehreren Ebenen funktionieren. So kann ein Autor beispielsweise vordergründig eine Geschichte erzählen, die für den Normalleser «brauchbar» ist, im Hintergrund aber noch eine zweite Ebene hat, die man nur mit Sekundärliteratur versteht. Nur fehlt bei Kafka eben die Geschichte, deshalb komme ich zum meiner schlechten Bewertung.


    Ich kann Klassikfreunds Argumentation aber durchaus auch verstehen und seine Bewertung ebenfalls, keine Frage. Aber eben:


    [quote author=Klassikfreund]...so absurd, dass man dies fast lächerlich finden kann[/quote]


    Und genau so geht es mir dabei. Wenn ich mich mit Kafka und seinem Stil näher befassen würde, käme ich wahrscheinlich auch zu einem besseren Urteil. :smile: Ich habe «Amerika» jedoch aus der Sicht einer Normalleserin beurteilt, die ganz unbedarft ihren ersten Kafka zur Hand genommen hat und wohl künftig auf weitere Bücher des Autors verzichten wird :zwinker:


    Bettina:
    Jaqui hat Recht: Wenn du es wirklich wissen willst, liest du dir «Amerika» am besten selbst durch, um dir einen Eindruck seines Schaffens zu machen. Ich würde dir meine Ausgabe sogar schicken, wenn du möchtest. Die Adresse nehme ich gerne per PN entgegen.


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.


  • Irgendwie ist Kafka einer der Autoren die man entweder total genial findet oder furchtbar.


    Genau das wollte ich auch gerade posten... :winken:


    lg, Frau 32, die auch nie einen Zugang zu Kafka gefunden hat, obwohl manche Ideen (Schloss, Verwandlung) wirklich gut sind.

  • Bettina:
    Jaqui hat Recht: Wenn du es wirklich wissen willst, liest du dir «Amerika» am besten selbst durch, um dir einen Eindruck seines Schaffens zu machen. Ich würde dir meine Ausgabe sogar schicken, wenn du möchtest. Die Adresse nehme ich gerne per PN entgegen.


    Ich pe-enne Dich an. Dann bin ich die Meinung dazwischen, halb unvorbereitet, halb vorgewarnt :zwinker: Werde ich wohl nach zwei bis drei Wettbewerbsbüchern einschieben.

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  • Ehrlich gesagt liebe ich dieses Buch. Die Protagonisten handeln realistisch in einer unrealistischen Welt. Roßmann wird von einem Ort zum nächsten geworfen und findet sich immer wieder übermächigen Gegnern gegenübergestellt. Man muß es einfach schaffen, sich auf Kafkas Welt einzulassen. Ich finde sowieso, daß er auch eine Art Dystopie entwickelt hat.
    Es ist so schade, daß Kafka es nie beendet hat. Aber gut, ich bin sowieso Kafkafan. Er ist einer meiner absoluten Lieblingsschriftsteller. Und auch wenn es für ihn eine Qual war, bin ich glücklich das Kafkas Vater so war wie wer war. Sonst würde uns ein schönes Stück Literatur fehlen.
    Das, was heutzutage kafkaesk genannt wird, hat allzu häufig nicht mehr viel mit Kafka zu tun.

    [i]Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Mensche

  • Liebe Alfa,


    Aristoteles lebt! :breitgrins:.
    Du darfst natürlich jedes Buch ganz nach gusto schlecht finden (das weißt Du ja auch), aber diese Einlassung interessiert mich doch: Ist ein Buch umso besser, je genauer es die Wirklichkeit abbildet? Und meine Frage zielt natürlich auf etwas anderes: Ist es nicht vielleicht etwas anderes, das Dich an diesem Buch stört als die Tatsache, dass es zu Beginn des Jahrhunderts noch keine Hotels mit 30 Fahrstühlen gab (wobei ich mir gar nicht so sicher wäre, dass es die tatsächlich nicht gab, die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine der megalomansten Zeitperioden, die ich kenne ;-))?
    Schlaf doch noch zweimal drüber und dann, mit ein bisschen Abstand, würden mich die weiteren Beispiele doch sehr interessieren. Vergeudete Zeit ist das mitnichten. :)


    Ganz herzlich: Bartlebooth.

  • [quote author=Bartlebooth]
    Ist ein Buch umso besser, je genauer es die Wirklichkeit abbildet?[/quote]


    Nein. "Der Herr der Ringe" beispielsweise ist fernab jeder Realität, trotzdem halte ich es für ein sehr gutes Buch. Was ich jedoch gar nicht mag, ist Absurdes ohne Humor. Rossmanns Geschichte ist tragisch, aber gleichzeitig sind die Verhaltensweisen der Charaktere und das ganze Setting des Buches total absurd. John Irving macht das auch gerne und der ist unter anderem deshalb auf der Liste der Autoren, deren Bücher ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde.
    Absurdes mag ich lediglich, wenn es mit Komik, Klamauk oder Satire verbunden ist. Zum Beispiel "Per Anhalter durch die Galaxis" von Douglas Adams.
    Ich lese aktuell grade "Rand" von Jan Kjaerstad (das du ja letztes Jahr in der Leserunde gelesen hast) und auch dort habe ich meine liebe Mühe: Der Ich-Erzähler spricht einfach irgendwelche Leute an (oder sie ihn) und daraus entstehen dann lange, tiefsinnige Gespräche. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Norweger so (glaube ich eher nicht) oder ich bin wieder an ein Buch geraten, das nur aufgrund von Absurditäten funktioniert, die für meinen Geschmack einfach zu viel des Guten sind (glaube ich viel eher).
    Die Liste solcher Bücher liesse sich fast beliebig fortsetzen. Überspitzt formuliert: Es ist in der modernen Literatur offenbar normal, dass die Protagonisten nicht normal sind. Und damit kann ich nichts anfangen - egal, ob bei Franz Kafka, Peter Høeg*, Salman Rushdie oder Michael Ondaatje ("Der englische Patient")...


    Die Rezension von "Amerika" ist also wirklich eine Frage meines persönlichen Geschmackes und kein Qualitätsurteil. Aber das habe ich in der Rezi ja auch angedeutet.


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea


    PS: Schön, mal wieder was von dir zu lesen!


    *dem Kerl habe ich sogar drei Chancen gegeben: "Fräulein Smillas Gespür für Schnee (ging noch), "Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert" (ging grade noch) und "Die Frau und der Affe" (glücklicherweise nur als Hörbuch ausgeliehen)

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Zitat

    Absurdes mag ich lediglich, wenn es mit Komik, Klamauk oder Satire verbunden ist. Zum Beispiel "Per Anhalter durch die Galaxis" von Douglas Adams.


    Ich würde behaupten, dass "Amerika" stellenweise ein sehr komisches Buch ist, für Kafkas Verhältnisse auf jeden Fall :breitgrins:. Insofern befriedigt mich das noch nicht ganz. ;)
    Kafka in einem Atemzug mit John Irving zu nennen... Also, Alfa! John Irving steht literarisch in einer ganz realistischen Tradition. Die Absurditäten sind bei ihm meist nur flittriges Beiwerk, das zur Thematik nicht viel beiträgt, oft genug ziemlich reißerische Stilmittel. Im Grunde ist und bleibt er Realist.
    Kafka ist das nicht. Ich finde ihn auch nicht im eigentlichen Sinne absurd. Seine Geschichten sind vielmehr groß angelegte Allegorien, in denen es meist um ganz große Themen wie Gerechtigkeit, individuelles Handeln, Politik oder gesellschaftlichen Zusammenhalt geht.


    Zitat von "Pan"

    Die Protagonisten handeln realistisch in einer unrealistischen Welt.


    Damit kann ich etwas anfangen, wenn ich auch nicht zustimme. ;) Die Welt ist bei Kafka höchst reduiziert auf Handlungsmuster, auf Verfahrensweisen. Die Figuren durchschauen diese Muster aber genauso wenig wie die Leser. Das ist ganz und gar nicht realistisch. In realistischen Texten scheitern zwar Figuren häufig an gesellschaftlichen oder sonstigen größeren Gegebenheiten, aber man kann dieses Scheitern meist ziemlich genau nachvollziehen. Oder: Wo im realistischen Roman Konflikt steckt, herrscht bei Kafka eher Nicht-Verstehen. Und das stört seine Protagonisten erstaunlicherweise kaum einmal, jedenfalls nicht in einem der wahnsinnigen Maschinerie angemessenen Maße. Ich kann daher verstehen, wenn Wut bei der Lektüre Kafkas entsteht über diese unglaubliche Schafhaftigkeit, diese Duldsamkeit gegenüber einer doch so unverkennbar schrecklichen Welt.
    Kafka zeigt so etwas ganz Wichtiges: nämlich dass man sich der Beschränkungen, die einem auferlegt sind, gar nicht unbedingt bewusst sein muss. Aus der Außenperspektive scheinen sie Anlass zu sofortigem Aufstand zu geben, von den Figuren werden sie häufig nicht einmal in Frage gestellt oder bemerkt. Legt Kafka hier nicht etwas frei, was nicht nur das modernisierte Leben, dies aber in ganz besonderer Weise durchzieht (der Zeitkontext ist bei Kafka wie stets interessant, wenn man ihn berücksichtigt)?


    Herzlich, Bartlebooth.


  • Kafka zeigt so etwas ganz Wichtiges: nämlich dass man sich der Beschränkungen, die einem auferlegt sind, gar nicht unbedingt bewusst sein muss. Aus der Außenperspektive scheinen sie Anlass zu sofortigem Aufstand zu geben, von den Figuren werden sie häufig nicht einmal in Frage gestellt oder bemerkt. Legt Kafka hier nicht etwas frei, was nicht nur das modernisierte Leben, dies aber in ganz besonderer Weise durchzieht (der Zeitkontext ist bei Kafka wie stets interessant, wenn man ihn berücksichtigt)?


    Großartige Charakterisierung des Werks.


    Gruß, Thomas

  • [quote author=Bartlebooth]
    Kafka in einem Atemzug mit John Irving zu nennen... Also, Alfa! John Irving steht literarisch in einer ganz realistischen Tradition. Die Absurditäten sind bei ihm meist nur flittriges Beiwerk, das zur Thematik nicht viel beiträgt, oft genug ziemlich reißerische Stilmittel. Im Grunde ist und bleibt er Realist.[/quote]


    Zweifellos richtig. Aber so genau analysiere ich Bücher, die mir nicht gefallen, nicht :zwinker: Ob jetzt die Absurditäten sozusagen das "Grundthema" des Buches oder nur Beiwerk sind - mich stören sie.


    [quote author=Bartlebooth]
    Ich kann daher verstehen, wenn Wut bei der Lektüre Kafkas entsteht über diese unglaubliche Schafhaftigkeit, diese Duldsamkeit gegenüber einer doch so unverkennbar schrecklichen Welt.[/quote]


    Das hast du wirklich sehr schön ausgedrückt, denn genauso ging es mir. Wenn ich diesen Rossman live vor mir gehabt hätte, hätte ich ihm zumindest einen verbalen Tritt in den Allerwertesten gegeben - mehrfach, vor allem als er sich nicht gegen die Rauswürfe bei seinem Onkel und im Hotel gewehrt hat.


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.


  • Wenn ich diesen Rossman live vor mir gehabt hätte, hätte ich ihm zumindest einen verbalen Tritt in den Allerwertesten gegeben - mehrfach, vor allem als er sich nicht gegen die Rauswürfe bei seinem Onkel und im Hotel gewehrt hat.


    Faszinierend, nach einer Interpretation von W. Hinck wollte Kafka genau solche Gefühle erzeugen.


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Naja, den Kafka hätte ich am liebsten gleich mitgetreten – ich bezweifle mal, dass das auch in seinem Sinne war. :breitgrins: Andrerseits muss man sagen: Schön für ihn, wenn seine Bücher auch fast 100 Jahre später noch so funktionieren, wie er sich das (vielleicht) gewünscht hat...

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.


  • [quote author=Bartlebooth]
    Kafka in einem Atemzug mit John Irving zu nennen... Also, Alfa! John Irving steht literarisch in einer ganz realistischen Tradition. Die Absurditäten sind bei ihm meist nur flittriges Beiwerk, das zur Thematik nicht viel beiträgt, oft genug ziemlich reißerische Stilmittel. Im Grunde ist und bleibt er Realist.


    Zweifellos richtig. Aber so genau analysiere ich Bücher, die mir nicht gefallen, nicht :zwinker: Ob jetzt die Absurditäten sozusagen das "Grundthema" des Buches oder nur Beiwerk sind - mich stören sie.[/quote]


    Das sei Dir vollkommen unbenommen, aber ich erlaube mir die Bemerkung, dass man Bücher auch bei Nichtgefallen noch soweit analysieren sollte, um Irving und Kafka noch auseinanderzukriegen... Sonst könnte man auf dei Idee kommen, Du hättest nicht so genau gelesen. ;)
    Auch meine Einlassungen nicht ;-), denn wie gesagt: Ob es sich um Absurditäten handelt, das wäre erst noch zu diskutieren.


    Zitat von "Alfa"

    [quote author=Bartlebooth]
    Ich kann daher verstehen, wenn Wut bei der Lektüre Kafkas entsteht über diese unglaubliche Schafhaftigkeit, diese Duldsamkeit gegenüber einer doch so unverkennbar schrecklichen Welt.


    Das hast du wirklich sehr schön ausgedrückt, denn genauso ging es mir. Wenn ich diesen Rossman live vor mir gehabt hätte, hätte ich ihm zumindest einen verbalen Tritt in den Allerwertesten gegeben - mehrfach, vor allem als er sich nicht gegen die Rauswürfe bei seinem Onkel und im Hotel gewehrt hat.[/quote]
    Ob das nun Kafkas Wunsch war, werden wir nie rausfinden. Das finde ich aber auch ganz nebensächlich. Wohingegen ich immer noch gern wüsste, ob Du die Duldsamkeit nicht weniger als menschliche Eigenschaft denn als poetisches Programm lesen könntest (Roßmann ist ja nicht Dein bester Freund, dem Du in den Hintern treten musst, sondern eine literarische Figur). Macht das für Dich wirklich so gar keinen Unterschied?


    Aber ich will Dich auch nicht drangsalieren. ;)


    Herzlich: Bartlebooth.

  • ... aber ich erlaube mir die Bemerkung, dass man Bücher auch bei Nichtgefallen noch soweit analysieren sollte, um Irving und Kafka noch auseinanderzukriegen... Sonst könnte man auf die Idee kommen, Du hättest nicht so genau gelesen. ;)


    Was mich allerdings auf die Frage bringt, wie weit man als Leser gehen soll, muss oder kann. Es gibt offensichtlich Bücher, die schlägt man auf, liest sie und schlägt sie wieder zu. Der Sinn ergibt sich sofort oder nach einiger Zeit - aber jedenfalls von selbst. Es gibt wohl aber auch Bücher, die bei typischem Leseverhalten keine besondere Wirkung haben und wo sich der Sinn eines Buches erst dann ergibt, wenn man Interpretationen dazu kennt oder z. B. die Biografie des Autors gelesen hat. Das ist zumindest gerade mein Eindruck.


    Was darf man vom Leser aber erwarten? Wieviel zusätzliche Informationen darf, soll, muss oder kann er sich über Autor und Werk einverleiben, damit er das Werk einigermaßen sinnvoll beurteilen kann? Bücher werden ja nicht zwingend besser, wenn man weiß, warum der Autor seine Protagonisten so gestaltet und nicht anders.



    [size=7pt]Soll ich das in einen eigenen Thread packen oder verträgt die Diskussion diese off topic-Frage?[/size]

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  • Hallo zusammen!


    Was mich allerdings auf die Frage bringt, wie weit man als Leser gehen soll, muss oder kann. Es gibt offensichtlich Bücher, die schlägt man auf, liest sie und schlägt sie wieder zu. Der Sinn ergibt sich sofort oder nach einiger Zeit - aber jedenfalls von selbst.


    Dieses Verhalten zeigt m.M.n. jedes Buch, das überhaupt einen Sinn hat. Nicht jedem Leser aber ergibt sich so der gleiche Sinn.


    Es gibt wohl aber auch Bücher, die bei typischem Leseverhalten keine besondere Wirkung haben und wo sich der Sinn eines Buches erst dann ergibt, wenn man Interpretationen dazu kennt oder z. B. die Biografie des Autors gelesen hat. Das ist zumindest gerade mein Eindruck.


    Gibt es nicht. In dem Moment, wo ich die Biografie des Autors oder Sekundärliteratur kennen muss, ist das Buch verloren. Biografie des Autors und Sekundärliteratur können dem Leser zusätzliche Aspekte eröffnen, das ja.


    Was darf man vom Leser aber erwarten? Wieviel zusätzliche Informationen darf, soll, muss oder kann er sich über Autor und Werk einverleiben, damit er das Werk einigermaßen sinnvoll beurteilen kann? Bücher werden ja nicht zwingend besser, wenn man weiß, warum der Autor seine Protagonisten so gestaltet und nicht anders.


    Das einzige, das ich von einem Leser erwarte, ist genaue Lektüre. Und eine Begründung eines Qualitätsurteils, das seinerseits über "super" und "geil" oder "Sch...e" hinausgeht.


    Kafkas Werk steht m.M.n. heute unter enormem Druck. Die Welt, die er beschreibt, ist Kakanien hoch drei: eine ausgeprochen patriarchalisch organisierte Gesellschaft im Ganzen, potenziert durch die Klaustrophie auslösende Tatsache, dass die Deutschprager vor Ort eine Minderheit darstellten, nochmals potenziert durch die Tatsache, dass das Judentum eine Minderheit in der Minderheit darstellt. Beide Minderheiten extrem exponiert, da sie in hohem Masse die jeweils führende Schicht bildeten. Innerhalb der deutschjüdischen Prager eine extrem ständische, ja fast kastenartige Organisation, die einen ungeheuren Druck auf die Söhne ausübte, (beruflich) dasselbe und doch besser zu werden als die Väter. Und die gehörten - per definitionem - schon zu den besten!


    Diese Welt ist mit der 68er Generation des letzten Jahrhunderts definitiv explodiert - unser Problem ist nicht mehr die Qual hervorgerufen durch die Pflicht zum Gehorsam.


    Wir empfinden deshalb Kafkas Werk in zusehendem Mass als eines für Pubertierende geschriebenes (analog zu Hesse). Das wird weder Intention des Autors noch der des Werks gerecht - ist aber, fürchte ich, eine Konsequenz der Geschichte des 20. Jahrhunderts. (Auch andere Klassiker, wie Klopstock, gingen darin verloren ... )


    [size=7pt]Soll ich das in einen eigenen Thread packen oder verträgt die Diskussion diese off topic-Frage?[/size]


    [size=5pt]Diese Diskussion ist, finde ich, bei Kafka alles andere als off-topic![/size] mini_01.gif


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)