Sehr unterschiedlich in Form und Inhalt sind diese Texte, die als “Petersburger Novellen” oder “Petersburger Geschichten” in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Gemeinsam ist ihnen nur der Schauplatz: das St. Petersburg des 19. Jahrhunderts, die Wahlheimat Gogols und in späteren Schaffensphasen die wichtigste Quelle seiner Inspiration.
Gogol hat schon in seinen frühen Texten, Geschichten aus dem Leben ukrainischer Bauern, den unverkennbaren Hang zum Dämonischen, Überweltlichen und auch Skurrilen bewiesen, der auch in den “Petersburger Geschichten” zum Tragen kommt. Dabei fängt alles ganz harmlos an: Nach einleitenden “Petersburger Skizzen” beschreibt er in “Der Newskij Prospekt” die Prachtmeile St. Petersburgs und die Vielfalt der Flaneure, die sich im Tagesverlauf auf ihm tummeln. Dort trifft ein junger Maler eine Schönheit und folgt ihr nach Hause, nur um dort feststellen zu müssen dass es sich um eine ziemlich heruntergekommene Prostituierte handelt. Nach diesem Schock steigert er sich in tragische Traumgebilde hinein, die auch den Leser in ihren Bann ziehen - die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischen sich.
Auch in den folgenden Geschichten ist diese Grenze häufig mehr als nur verschwommen. In “Das Portrait” bringt ein Bild seine Besitzer der Reihe nach um den Verstand, die (scheinbare) Lebendigkeit des Abgebildeten und sein Einfluss auf die Betrachter erzeugt einen Horror, der an E.A. Poe erinnert. In den “Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen” verfällt ein kleiner Büroangestellter der Tochter seines Vorgesetzten und verliert sich schließlich in einer Phantasiewelt, die auf Selbstüberschätzung und Größenwahn gründet und dadurch besonders das Mitleid des Lesers provoziert.
“Die Nase” ist ein Musterbeispiel absurder Erzählweise: Eines Tages findet ein Barbier in einem frischgebackenen Brot eine Nase - die Nase, die dem Kollegienassessor Kowaljow am gleichen Morgen plötzlich abgeht. Kowaljow macht sich auf die Suche nach seiner Nase, trifft sie in einer Offiziersverkleidung in der Stadt, wird von ihr aber hochmütig abgewiesen. Bis er wieder im Besitz dieses Körperteils ist, müssen noch viele skurrile Begebenheiten ihren Lauf nehmen.
Die bewegenste - und vielleicht tiefgehenste - Erzählung der Sammlung ist “Der Mantel”. Wieder ist ein kleiner, einsamer Beamter der Protagonist. Dieser, auf der untersten Stufe der arbeitenden Bevölkerung, spart sich unter großen Entbehrungen einen neuen Wintermantel zusammen. Der Erwerb dieses für seine Verhältnisse kostbaren Stücks reißt ihn für kurze Zeit aus seiner Isolation und seinen elenden Lebensverhältnissen; aber auch hier kommt es so, dass er hinterher umso tiefer und bis in den Tod fällt.
St. Petersburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das war eine Stadt des Prunks und des Reichtums. Russlands “Fenster zum Westen” produzierte eine Melange aus der alten zaristischen Kultur mit den Errungenschaften des Westens, war der Sammelpunkt von Vermögen, Aristokratie und Bildung. Gogols Protagonisten in diesen Novellen sind jedoch immer die “kleinen Leute”, die, verachtet und rechtlos, in dieser Stadt des (scheinbaren) Überflusses um ihr Überleben kämpfen und dabei immer wieder unter die Räder geraten.
Alles ist “mehr Schein als Sein”, das Echte, Wahre stellt sich immer wieder als Fälschung und Irreführung heraus. Scheinbar unspektakuläres Alltagsgeschehen endet im Wahn und im Chaos; die Protagonisten sind nicht von vornherein die totalen Außenseiter, sondern werden von den Verhältnissen, in denen sie leben müssen, in die Isolation und in die geistige Zerrüttung gedrängt. Selbst wenn sie einmal vom Glück begünstigt scheinen, erweist sich dies im nächsten Moment schon wieder als Trugschluss.
Für den Leser bedeuten diese Erzählungen ein ständiges Wechselbad der Gefühle, Komisch-Absurdes folgt auf Tragik und Horror. Dennoch erscheinen auch die skurrilsten Szenen insoweit verständlich und nachvollziehbar, als die Charaktere wunderbar ausgearbeitet sind und in ihrem Handeln vollkommen verständlich erscheinen. So unterschiedlich die einzelnen Texte sind, so verschieden sind auch die Eindrücke, die hinterher zurück bleiben. Eine rundum lohnende Lektüre.
Ich habe das Buch als Teil des Schubers "Russland lesen" in der Übersetzung von Swetlana Geier gelesen. Ich verlinke aber auch noch einen Einzelband mit den Novellen, in dem "Das Portrait" allerdings fehlt.
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