J. R. Moehringer - Tender Bar

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    Klappentext
    Eine Bar ist vielleicht nicht der beste Ort für ein Kind, aber bei weitem nicht der schlechteste. Vor allem das »Dickens« nicht, mit seinen warmherzigen und skurrilen Figuren: Smelly, der Koch, Bob the Copund seine geheimnisvolle Vergangenheit oder Cager, der Vietnam-Veteran. Für den kleinen JR sind sie alle bessere Väter als seiner - wäre er da gewesen. Von ihnen lernt er Mut, Zuversicht und die Gewissheit, dass es nicht nur Gut und Böse gibt, dass Bücher Berge versetzen können und das man an gebrochenem Herzen nicht stirbt. In der Bar hört er zum ersten Mal Sinatra, sieht Baseballspiele im Fernsehen, und trinkt sein erstes Bier. Er lernt auch, dass Träume wahr werden können - wenn man für sie kämpft.»Komisch, ehrlich, traurig und lebensnah - JR Moehringer schreibt unwiderstehlich.« Vanity Fair




    Meine Meinung


    JR Moehringer ist Reporter und beschreibt mit diesem Buch seine eigene Kindheits- und Jugendgeschichte, genauer gesagt bis zu dem Punkt, an dem er sich als „Erwachsener“ ankommen sieht. Bei Fischer läuft das Buch unter „Roman“, es liest sich tatsächlich wie ein Entwicklungsroman, Moehringer jedoch besteht darauf, dass es seine „Memoiren“ sind.


    Im Zusammenhang mit diesem Buch finde ich die folgende Anekdote witzig, um nicht zu sagen „verlagstypisch“. Ein Manager vom S. Fischer Verlag war in New York unterwegs und sah in den Auslagen dieses Buch, worauf er zuhause anrief und den Befehl erteilte, sich sofort um die deutschen Rechte zu kümmern, worauf sich herausstellte, dass das Angebot von Moehringers Agentin seit Monaten auf irgendeinem Schreibtisch bei Fischer verkümmerte.


    Es geht um die Dickens-Bar in Manhasset auf Long Island und es geht um die Suche eines kleinen Jungen nach seinem Vater, der nach seiner Geburt die Familie verlassen hat. JR, der kleine Junge, lebt mit seiner Mutter in einem heruntergekommenen Haus zusammen mit einem grantigen Opa, seinem Onkel Charlie, dieser steht im „Dickens“ an der Theke, einer keifenden Tante sowie deren Töchter. Irgendwann findet der Junge heraus, dass sein Vater als Radiosprecher arbeitet und hängt fortan am Radio, um wenigstens die Stimme seines Vaters zu hören, bis er eines Tages das „Dickens“ entdeckt. Die Oma hat ihn dahingeschickt, um eiligst Zigaretten für Onkel Charlie zu holen, da dieser zuhause wegen eines Nikotinentzugschocks umgefallen ist.


    Ab diesem Zeitpunkt – der Junge ist acht Jahre alt – träumt er noch von einem: von der Bar. Sein sehnlichster Wunsch ist es, genauso wie Onkel Charlie und all die anderen „Männer“ in der Bar ein- und ausgehen zu dürfen. Und hier klingt die Suche nach dem Vater wieder an: Die Männer in der Bar werden im Laufe der Erzählung zu Ersatzväter für JR. Großartig beschreibt Moehringer all die skurrilen Typen, die nur eines verbindet: Das Trinken und in dessen Gefolge die Themen, bei denen sich Männer auskennen: Pferdewetten, Baseball, Boxen und ... Frauen. Speziell die Passagen, wo sie über Frauen referieren – später wird sich JR unglücklich verlieben – sind eine Wonne zu lesen. Das Dickens bleibt JR die Familie, die Heimat, auch dann noch, als er Manhasset längst verlassen hat: er studiert in Yale und arbeitet als Praktikant bei der TIMES. Wann immer es Probleme in seinem Leben gibt, und das gibt es recht oft, das Dickens bleibt sein Zufluchtsort, nur dort fühlt er sich aufgehoben.


    Das Buch ist einer charmanten und streckenweise originellen Sprache geschrieben, es wimmelt auch von originellen Szenen, manches zu komisch, um wahr zu sein, manches so komisch, dass es gar nicht erfunden sein kann, manches auch todtraurig, - wie das Leben nun mal ist.


    Genießen kann man das Buch aber nur, wenn man sich auf die langsame Erzählweise einlässt. In diesem Buch geht es nicht darum, im Schnellverfahren etwas über ein Leben zu erfahren. Man muss diesem talentierten Erzähler auf seinen unspektakulär angelegten Spuren folgen, um etwas zu verstehen von den trinkenden Barbewohnern, die ihn geprägt haben - und wenn man das Buch zuklappt, dann geht es gar nicht anders, als festzustellen, dass man nicht nur diesen jungen Mann ins Herz geschlossen hat sondern auch all die Männer an der Theke!


    5ratten



    EDIT
    Hallo, ich habe den Betreff angepasst. LG, Seychella

    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Der Rezension von Ulla ist eigentlich gar nichts mehr hinzuzufügen!


    Ich ging mit einigen Vorbehalten an das Buch heran – ich erwartete, und der Klappentext suggeriert das auch – ein Buch über das Leben eines verwahrlosten Kindes in einer Kneipe. Dem ist Gott sei Dank nicht so.


    JR (benannt nach seinem Vater Jonathan, der allerdings die Familie verlassen hat) lebt mit seiner sich für ihn aufopfernden Mutter Dorothy in New York. Seine Kindheit ist geprägt von ständiger Geldnot, ständigem Wohnungswechsel, von Einsamkeit, von Schuldgefühlen und Verantwortungsgefühl seiner Mutter gegenüber und der Hassliebe zu seinem Vater. Hin- und hergereicht zwischen seinen Großeltern und seinem Onkel Charly lernt JR bald die Welt der Erwachsenen kennen und somit auch die Stammkneipe seines Onkels, die „Dickens“, mit all ihren skurrilen Stammkunden. Diese Bar wird zu einer „Insel“ für JR, ein Fluchtpunkt und eine Heimat. Hier tröstet er seinen Liebeskummer, hier liest er seine geliebten Bücher, hier schmiedet er seine Zukunftspläne und begräbt auch dieselben.


    Es wird der Zeitabschnitt des Erwachsen-Werdens des JR beleuchtet. Besonders gut getroffen sind die Gedanken, die sich ein Kind über die Erwachsenen macht. Seine Sehnsucht nach dem Vater bzw. einer Vaterfigur, seine Schuldgefühle der Mutter gegenüber, die ihm alles ermöglicht (deren Erwartungen er am Ende aber doch nicht erfüllen kann und will).
    Mich hat das Buch sehr gut unterhalten, es ist kurzweilig, tiefgründig, sehr humorvoll aber auch recht traurig, alles in allem recht „amerikanisch“ (was jetzt keinesfalls abwertend gemeint ist)


    4ratten:marypipeshalbeprivatmaus:

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Tender Bar


    Als ich mich auf dem Weg durch meine Buchhandlung befand, um für mich, auf Empfehlung einer besonderen Menschin, deren Literaturkenntnissen ich vertraue, ein Buch von Henry Miller zu kaufen, führte mich der suchende Streifzug mehrmals an einem pyramidenförmig aufgebauten Buchstapel vorbei, dessen Farbe mir sogleich etwas Warmes, Bekanntes assoziierte. Eine Farbe, ähnlich wie die des alten Schrankes aus Nussbaumholz, der in Zeiten meiner Kindheit die Wohnung meiner Großmutter zierte.
    Beim dritten Kontakt mit dem in den Weg gestellten Blickfang, genehmigte ich mir eine genauere Betrachtung, die das Vertraute zu analysieren versuchte.
    Eine kurze Einführung auf dem Einband deutete darauf hin, dass das Buch ’Tender Bar’ die eigene, authentisch erlebte Geschichte des Autors beschrieb, ein Autor, der nur wenig älter ist als ich selbst, was vermuten ließ, Parallelen zu meinem Leben finden zu können, weil er beispielsweise genauso wie ich dazu neigt, einen Ort zu mythologisieren. Bei ihm eben diese Bar seines Onkels, der sie aus Liebe zur Schriftstellerei bedeutend ‘Dickens‘ nannte, in der alle Fäden des Lebens des Autors immer wieder zusammenliefen.
    Trotzdem wendete ich mich zunächst Miller zu und nachdem ich den ‘Wendekreis des Krebses’ gekauft und mit Begeisterung gelesen hatte, und erkannte, dass bald die Zeit für ein neues Buch kommen würde, richteten sich meine Gedanken immer wieder auf die Erinnerung an das Buch ‘Tender Bar’.
    Mich ließ weder die Farbe des Einbandes, noch der Gedanke an die Möglichkeit los, dass es im fernen Amerika vielleicht jemanden geben könnte, der Dinge erlebt hatte, die ich lesen sollte, weil er, genau wie ich etwas erlebt hatte, was zu unserer Zeit noch viel zu häufig tabuisiert wurde. Ich war in den Bann gezogen, dass ich mich nicht mehr dagegen wehren wollte, die Buchhandlung aufzusuchen, das Buch zu kaufen, es nach Hause zu tragen, es wie ein rohes Ei aus der Verpackung zu befreien um es von allen Seiten, durch beide Hände führend zu betrachten.
    Ich genoss diesen Geruch des neuen Buches, das frisch aus der Presse kam, das vorsichtige Öffnen der Seiten, die in einem leichten Cremebeige den Augen schmeichelten. Das hatte für mich das Gefühl, als würde ich eine erwartende Jungfräulichkeit beenden, obwohl ich das im eigentlichen Sinne nie erlebt hatte.
    Doch die Membran, die ich durchstieß, ist die Grenze des aus sich heraus kommen, um über etwas zu reden, dessen man sich in der Regel durch Gesellschaft und Erziehung - völlig unbegründet - schämt.
    Ich tauchte ein in die Geschichte des Autors, die sich wie ein Spiegelbild meiner eigenen Geschichte liest, wodurch sich ein großer Teil meiner Begeisterung für dieses Buch begründet. Die Ähnlichkeit der Abläufe des Lebens, der Personen, die die Handlung durchlaufen, Charaktere, Schule, Freunde, Liebe, Ausbildung, Literatur…
    Natürlich laufen die Dinge in den USA anders als in Europa, wer spielt hier Baseball, wer geht hier nach der 8. Klasse auf ´s College? Auch die Speisekarte der alkoholischen Getränke von Amerikanischen Jugendlichen unserer Zeit weicht deutlich von meinen ab, besonders was Härte und Menge betrifft! Doch das sind nur Äußerlichkeiten, die ihren Wert erst im Gefühl ihres Sinnes finden können. Es geht im Buch nicht darum, die Liebe zu einer bestimmten Person zu beschreiben, sondern den Zusammenhang zwischen Liebe und Leiden unter Voraussetzung eines bestimmten Lebensumstandes zu erläutern, um die Art, wie man diese Liebe dadurch lebt, oder nach welchen Kriterien man sich einen Menschen sucht und für welche Art Mensch man empfänglich wird. Die Dinge sind verschieden und doch so gleich.
    Was der Autor in Hoppers ’ Nighthawks ’ findet, sehe ich beim Betrachten von ’ Le Moulin de la Galette’ von Renoir.


    Ich lese das Buch und ich lese mich selbst. Ich lese mein Leben! Ein Kind, das ohne Vater aufwächst, mit all den Ängsten, unter all den Umständen, mit all den Umständen zu denen das führt. Ein Mensch, der nach Förderung sucht, ringend nach tausend Ersatz - Vätern, die sich die Zeit nehmen sollten, einem vaterlosen Jungen beizubringen, wie man Fußball spielt, eine Sicherheit bietet, aus der ich mir eine Eigene hätte aufbauen können. Ich sehe die vielen Menschen, die das alles ersetzen sollten, was ein Sohn in seinem Vater sucht, wie der Nachbar, der redselig Ratschläge für den Erfolg versprechenden Umgang mit Mädchen gab, oder der Tankwart, der mir den Auspuff meines ersten Autos mit einer Blechdose und zwei Schellen reparierte, weil ich kein Geld hatte, und mir auf verständnisvolle Weise zeigte, wie ich das beim nächsten Mal selbst bewerkstelligen konnte.
    Ich lese das Buch, folge dem Leben des Autors und sehe seine Mutter, die sich, genauso wie meine, tagein, tagaus kämpferisch und uneigennützig für ihr Kind verausgabte, litt, hoffte, verzweifelt nach Lösungen suchte, so dass heute nicht alle Liebe dieser Welt reichen könnte, um es ihr genügend zu danken!


    Ich habe diesen ganzen Weg meines Lebens noch einmal Seite für Seite, Seite an Seite mit dem Protagonisten durchlebt, und das war ein sehr schmerzlicher, doch gleichermaßen angenehmer und daher wichtiger Schritt für mich.
    Danke J.R. Moehringer, dem Schriftsteller, dessen Name wirklich gut klingt!

  • Das Buch steht schon naheuzu seit Erscheinen auf meiner Wunschliste. Eure Rezis sind wirklich toll und ausführlich! Ich war mir schon vorher sicher, sehe mich jetzt aber nochmal bestärkt, es nächste Woche von meinen Buchgutscheinen zu kaufen :daumen: Dann werde ich es auch gleich lesen und hier meinen Senf dazu abgeben :smile:

  • Der kleine J.R. wächst in Manhasset, New York, bei seiner Mutter auf. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, er weiß nur, dass er "die Stimme" ist, die er so gerne im Radio hört. Trotz aller Bemühungen ist die Mutter ständig von Geldnöten geplagt und schon mehrfach im chaotischen Haushalt der Großeltern ein- und später, wenn sie wieder etwas mehr Geld hatte, ausgezogen.


    Trotzdem ist es keine unglückliche Kindheit. J.R. findet in seinem Cousin, der ebenfalls im Haus der Großeltern wohnt, einen guten Kumpel - und in den Männern in der Bar, in der sein Onkel arbeitet, gleich mehrere väterliche Freunde. Sie alle haben ihre Macken und Eigenheiten und ihre mehr oder weniger traurige Lebensgeschichte und bringen J.R. das bei, was ihn sein Vater nicht lehren konnte.


    Als Schüler jobbt er in einer verstaubten, menschenleeren Buchhandlung und lernt von den beiden skurrilen Betreibern die Liebe zu Büchern. Er beschließt, aufs College zu gehen und Journalismus zu studieren - aber nicht irgendwo, sondern in Yale, wo er Sidney kennenlernt, die ihm lange Zeit keine Ruhe lassen wird ...


    J.R. Moehringer lässt hier seine eigene Biographie einfließen und erzählt manchmal schnoddrig, manchmal traurig, aber immer warmherzig und lebendig von den großen und kleinen Dingen, die ihn geprägt haben: seine Familie, die erste Begegnung mit der Literatur, die erste Liebe, Sport und Musik und natürlich die Jungs in der Bar, die ihm nicht nur den ersten Drink ausgegeben haben, sondern immer eine zuverlässige Anlaufstelle in guten und in schlechten Zeiten waren.


    Das Buch liest sich zügig und süffig, und die teilweise herrlich sarkastischen Beschreibungen verleihen ihm einen zusätzlichen Reiz. Mit J.R.s Lebensweg verflochten sind markante zeitgeschichtliche Ereignisse, die in der Regel in der Bar erlebt und kommentiert werden. Das einzige, was manchmal nervte, waren die sehr sinnfreien Wortspiele eines bestimmten Bargastes und ein paar Baseball-Bezüge, die mir zunächst nichts sagten, doch am Ende des Buches befindet sich ein Glossar, in dem viele Namen und Ereignisse in der Reihenfolge des Auftretens im Buch für Nicht-Amerikaner erläutert werden.


    Alles in allem ein gelungenes Debüt - ein wenig schräg, aber doch lebensecht.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Juchu! Jetzt habe auch ich es endlich gelesen.... :klatschen:


    Die inhaltliche Zusammenfassung kann ich mir glaube ich jetzt sparen, da meine "Vorschreiber" diese schon wunderbar zu Papier gebracht haben.


    Meine Meinung:
    Tender Bar ist eine einfühlsam erzählte Geschichte, die JR (OHNE PUNKTE, darauf besteht er) Moehringers Kindheit bis zum Erwachsenenalter erzählt. Der Autor schafft es mühelos, die Atmosphäre der Bar "Publicans", in der der kleine JR quasi aufwächst, sehr plastisch und beeindruckend zu schildern. Fast schon hat man das Gefühl, mit Charlie, Bobo und den Anderen bei einem "Silk Panty" am Tresen zu sitzen und den Lebensgeschichten der Anwesenden zu lauschen.
    JR erlebt in seinem Leben immer wieder Rückschläge und Entbehrungen, vor denen er Zuflucht in seiner Wahlheimat, dem Publicans sucht, wo er immer Unterstützung und mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge erhält.


    Tender Bar ist eine Geschichte, die einen lehrt, dass man trotz schwieriger Lebensumstände und Rückschlägen nicht aufgeben soll, für seinen Traum zu arbeiten und dass echte Freunde auch in schwierigen Zeiten zusammen stehen. Kurz gesagt, ein Buch, dass das Herzchen anrührt....


    Auch kleinere Längen konnten die Faszination, die das Buch auf mich ausgeübt hat, kaum trüben. Deshalb gibt es von mir:


    4ratten

  • Hm ... ich war einen Moment lang versucht ... aber ein Buch zums Herzchen anrühren ... nein, ich glaube doch nicht ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Na ja Sandhofer,
    das war ja nur meine Meinung dazu... Ich fand es einen Tick zu schnulzig und sentimental, aber das heißt ja nicht, dass es dir nicht gefallen würde..... Gib dir doch einfach einen Ruck! :zwinker:

  • Ich kann auch nichts mehr hinzufügen, außer dass ich das Buch wirklich sehr gut fand.
    Man kann sich auch ziemlich leicht mit JR identifizieren. Oder zumindest ich, da meine Eltern eine Kneipe führen und da auch zu meiner Erziehung wohl sehr viele liebenswürdige und leicht verdrehte Kneipengänger ihren Teil zu beitrugen *g*


    LG
    Dalloway

    &quot;This was another of our fears: that Life wouldn&#039;t turn out to be like Literature&quot; (Julian Barnes - The Sense of an Ending)

  • Moehringer liefert hier einen autobiographischen Roman ab, der einfach wunderbar ist.


    Wirken die Geschichte und der Alkoholkonsum anfangs teilweise kindlich verklärt, so zeigt die Magie des Alkohols wunderbar JRs Heranwachsen und Reifen, wobei der Alkohol immer eine große Rolle spielt, denn die Hauptfigur - und Dreh- und Angelpunkt - des Romans ist eben die Bar "Publicans", mit all ihren Gästen.


    Wirken diese Gäste zu Beginn alle einfach wie oberflächliche Säufer, versteht es JR sehr gut und behutsam in ihr Seele zu blicken. Und ja, sie alle haben eine Seele und eine Geschichte, die jeden zu dem macht, was er ist.
    Am meisten beeindruckt hat mich hier Onkel Charlie, was für ein toller Kern unter der Schale.


    Aber nicht nur die Bar hat es mir angetan, auch das zweihundertjährige Sofa im Haus der Großeltern steht irgendwie für ein Zuhause, wenn auch ein leicht skurriles.


    Ein wunderbares Buch, von einem Autor, der hoffentlich noch mehr Geschichten zu erzählen weiß


    5ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Papyrus ()

  • Wenn ich eure ganzen begeisterten Rezis hier so lese, dann sollte ich dem Buch vielleicht doch noch einmal eine Chance geben. Bei mir steht es im Moment angefangen im Regal und ich hatte eigentlich nicht vor, es in naher Zukunft zu Ende zu lesen... :gruebel:

    :leserin: Plichota/ Wolf: Oksa Pollock - Die Unverhoffte<br /><br />SLW - Annabas: 1/10<br />SLW - Seychella: 0/10

  • Ich habs ebenfalls auf Englisch da und auch schon so ca. die ersten 50, irgendwie so, Seiten angelesen - wirklich ein wunderbarer, amüsanter, aber auch irgendwie ein durch die nur einem aufgeweckten Kind mögliche unmittelbare, kristallklare Sicht auf die Dinge geprägter Schreibstil, freut mich, dass die Übersetzung auch so gut gelungen scheint, wie eure guten Rezis zeigen - gerade bei so einem Buch könnte eine grottige Übersetzung sowie ohnehin ein grottiger Schreibstil wirklich einiges kaputtmachen!


    Hab es in letzter Zeit etwas aus den Augen verloren, werd es aber hoffentlich demnächst zuende lesen. Die Passage, in der JR auf seinen Vater wartet, der ihn mitnehmen soll zum Baseballspiel, besonders die Schilderung, wie lange JR draußen wartet, war wirklich herzzerreißend - ein Wort, was ich eigentlich keineswegs oft benutze, aber das beschreibt es hier ziemlich exakt. :traurig:



    LG

  • Mein Senf :zwinker:


    JR wächst ohne Vater auf, die Mutter hat seinen Erzeuger wenige Monate nach seiner Geburt verlassen, da er gewalttätig war. Das Geld reicht selten aus, daher wohnen sie meistens bei seinen Großeltern, in deren Haus auch sein Onkel Charlie und zeitweise eine Tante mit ihren Kindern leben. An männlichen Bezugspersonen fehlt es JR daher nicht, in seinem Cousin McGraw findet er einen Bruder, sein Onkel Charlie, der in einer Bar arbeitet, und seine Freunde sind die männlichen Vorbilder. Seinen Vater kennt JR nur als „die Stimme“, er ist Radiomoderator.
    JR fühlt sich viel zu früh für seine Mutter verantwortlich, in einem Alter, in dem er eigentlich unbesorgt über den Spielplatz tollen sollte. Von seiner Großmutter wird er noch darin bestärkt, denn „gute Söhne sorgen für ihre Mutter!“. So ist der kleine JR sehr angespannt und ängstlich, er hängt extrem an seiner Mutter. Die sorgt allerdings dafür, dass er sich langsam immer mehr von ihr löst. Als sie aus dem Haus ihrer Eltern ausziehen, schickt sie ihn in den Ferien immer wieder dorthin, in der Zeit kümmern sich sein Onkel Charlie und seine Freunde aus der Bar, dem „Publicans“, um ihn und sorgen dafür, dass er auch mal an etwas anderes als seine Sorgen denken kann.
    Als JR seinen Traum wahr machen kann und nach Yale geht, wird das „Publicans“ sein Zufluchtort. Dort findet er eine Heimat und Freunde, die ihm immer mit Rat und Tat zur Seite stehen. Sowohl bei den ersten Problemen mit den Frauen, als auch später in der Arbeitswelt. Dabei fließt allerdings Alkohol in rauen Mengen, was JR auch beinahe zum Verhängnis wird.


    Es ist ein ruhiger Roman, in dem Moehringer seine eigene Kindheit aufgearbeitet hat. Der Leser begleitet JR während seiner Kindheit und Jugend, bis in die Zwanziger hinein. Die Gestalten im „Publicans“ wachsen einem schnell ans Herz, so schräg sie auch sein mögen, sie haben das Herz am rechten Fleck.


    Ein Buch über das Durchhalten das zeigt, dass es sich lohnt um seine Träume zu kämpfen und niemals aufzugeben.


    3ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Meine Meinung
    Es gibt Bücher, da weiß ich schon vom ersten Satz, dass sie mir gefallen werden weil sie etwas Besonderes sind. Tender Bar ist so ein Buch. JR's Leben ist nicht leicht, aber der Autor schafft es, sie so zu erzählen dass man auch die schönen Seiten sehen kann. Vielleicht waren die Erinnerungen aus der Kindheit auch ein wenig verklärt und wirkten deshalb "leichter". Spätere Erlebnisse erzählt Moehringer aus der Sicht des Heranwachsenden und jungen Mannes, da wirkt er schon zynischer und gerade die Zeit in Yale wirkt so, als ob er nicht viel Freude gehabt hat. Aber gerade das macht seine Erzählung so realistisch. Im ersten Moment hat mich dieser Zynismus ein bisschen gestört. Aber sie passt auch zu dem, was erzählt wird und deshalb sollte es nicht anders erzählt werden.


    Ich hatte mir vom Klappentext eine andere Geschichte vorgestellt. Der vermittelt den Eindruck, als ob JR sich nur in der Bar aufhalten würde. So interessant Möhringers Erlebnisse im Dickens auch sind bin ich trotzdem froh, auch über sein Leben außerhalb erfahren zu haben.
    5ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • An dem Tag, als ich dieses Buch begonnen habe, war ich wahrscheinlich mit dem falschen Bein aufgestanden. Wie anders kann es sonst sein, dass ich vierzig bis fünfzig Seiten brauchte, um richtig in das Buch reinzukommen. In der Regel weiß ich nach zehn, zwanzig Seiten, ob es meines ist oder nicht.

    Aber gut, glücklicherweise gebe ich Büchern ja eine Achtzig-bis-hundert-Seiten-Chance, um mich zu überzeugen. In diesem Falle wäre mir ansonsten ein tolles Buch entgangen.


    Die Geschichte ist autobiografisch. Was das betrifft, lese ich ja lieber Frauen-Biografien. Noch dazu ist der Autor Jahrgang 1964. Mein Jahrgang. Diese Zeit finde ich persönlich nicht so wahnsinnig interessant.

    So verschieden sind unsere Kindheitserinnerungen gar nicht, wenn ich mich jetzt mal mit J. R. vergleiche. Der einzige Vorteil, den ich hatte, war, dass wir abgesichert waren. Meine Eltern brauchten sich wegen des Jobs oder der Wohnung keine Sorgen machen.
    Aber gefühlsmäßig kann ich J. R. vollauf verstehen.


    Das wahre Genie von J. R.s Vater lag im Verschwinden. Früh ließ er die Familie im Stich. Doch J. R. konnte ihn im Kofferradio hören. Als seine Mutter das mitbekam, sorgte sie dafür, dass sich Vater und Sohn mal trafen. Und J. R. schämte sich, dass er sich auf den Vater so freute. Doch aus dem Besuch des angekündigten Baseballspieles wurde nichts. Der Junge wartete vergeblich.
    Und so macht sich J. R. auf, männliche Vorbilder zu suchen. Er versucht, sich mit dem Opa anzufreunden. Doch er hat Gewissensbisse; was würde die Mutter sagen. Und er fragt nach, warum sie nicht mit dem Opa redet:


    Opa gebe keine Liebe weiter, sagte meine Mutter, als hätte er Angst, sie könnte eines Tages knapp werden.


    Opa verbat ihr auch, ein College zu besuchen. Sie wollte so gerne studieren und Karriere machen.

    Etwas später, kurz vor seinem achten Geburtstag, kam es dann doch noch zu einem Treffen zwischen Vater und Sohn, aber darüber hat J. R. seiner Mutter nicht die Wahrheit erzählt. Und dann war er ganz verschwunden. Er floh aus dem Bundesstaat, weil J. R.s Mutter Unterhaltszahlungen einklagen wollte. Und er drohte ihr, den Sohn zu entführen und ihr einen Killer auf den Hals zu hetzen, wenn sie damit nicht aufhörte.
    Doch das und auch, was seine Mutter an ehelicher Gewalt erlebte, erfuhr J. R. erst in den folgenden Jahren.

    Auf dem Klappentext steht unter dem 1. von drei Punkten der Grund, warum es für Frauen gut ist, das Buch zu lesen: "Weil Männer viel einfühlsamer und liebenswürdiger sind, als man denkt."

    Diese einfühlsamen und liebenswürdigen Männer fehlen mir bisher. Der Opa ist der Familie gegenüber ein Ekel:


    Gegenüber seinen Kindern verhielt Opa sich kalt und seine Enkel ließ er meist abblitzen, aber zu Oma war er hässlich. Er setzte sie herab, schikanierte sie, quälte sie zum Spaß, und seine Grausamkeit gipfelte in dem Namen, den er ihr gab. Ich hörte ihn nie Margaret zu ihr sagen. Er nannte sie dumme Frau, was sich ein wenig wie die Pervertierung bestimmter indianischer Namen in Hiawatha anhörte - zum Beispiel Großer Bär oder Lachendes Wasser ... Jeder Tag der Erniedrigung und Scham war Oma anzusehen. Selbst wenn sie schwieg, sprach ihr Gesicht Bände.


    Dabei hielt er ihr Haushaltsgeld so kurz, dass sie sich nicht mal etwas für ein neues Kleid beiseitelegen konnte.

    Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen im Haus, ging J. R. in den Keller und entdeckte dort einen Schatz:


    In Schachteln verstaut, auf Tischen gestapelt, in Koffer und Überseekisten gepackt waren Aberhunderte Romane und Biografien, Lehrbücher und Kunstbände, Memoiren und Ratgeber, alle zurückgelassen von verschiedenen Generationen und abgekappten Familienzweigen. Ich weiß noch, wie mir der Atem stockte.
    Ich liebte diese Bücher auf der Stelle, und diese Liebe hatte meine Mutter in die Wege geleitet. Von meinem neunten Lebensmonat an bis ich zur Schule kam, hatte mich meine Mutter kontinuierlich das Lesen gelehrt und dazu hübsche Lernkarten verwendet, die sie bestellte.


    Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" und "Minuten-Biografien, "ein bröckelnder alter Band aus den 1930ern", wurden seine ständigen Begleiter.


    Berührend finde ich immer J. R.s Wunsch, nur das Beste für seine Mutter zu wollen. Er durfte nicht einfach nur sein Bestes geben, er musste perfekt sein. Er möchte studieren, um Anwalt zu werden und seinen Vater zu verklagen. Dann bräuchte sie nachts nicht immer auf dem Taschenrechner rumhacken. Denn wenn das losging, hieß es, dass man bald wieder bei Opa einziehen musste, weil das Geld nicht mehr reichte.
    Selbst als eine Beziehung seiner Mutter mit einem Mann in die Brüche ging, machte er selbst sich Vorwürfe. Er hätte sich mit diesem Mann mehr Mühe geben müssen, hätte sich mit ihm verstehen müssen. Er hätte ihn dazu bringen müssen, ihn zu mögen.

    Um den Glücksfall, der J. R. dann ereilt, beneide ich ihn. Er findet nach der Schule Arbeit in einem Buchladen. Bud und Bill führen ihn nicht nur in die Welt der Bücher ein.


    Bill und Bud kamen schnell dahinter, dass ich Bücher liebte, aber nicht sehr viel über sie wusste. Mittels einer Reihe rascher, bohrender Fragen fanden sie heraus, dass ich nur ,Das Dschungelbuch' und die ,Minuten-Biografien' kannte. Sie waren entsetzt und wütend auf meine Lehrer."


    Doch sie lehrten ihn auch Musik, widmeten sich seiner Sprechweise und zeigten ihm, sich ansprechender zu kleiden. Und sie bestärkten ihn in seinem Wunsch zu studieren.


    Sommer 1980:

    Zwei Schüsse aus kürzester Entfernung in die Brust, dann rannte der gesichtslose Täter davon. Meine Mutter und ich sahen das Ganze zusammen mit Millionen anderer Zuschauer. Der versuchte Mord an J. R. Ewing war das Ende der Staffel, der Cliffhanger von ,Dallas', der am häufigsten gesehenen Fernsehserie der Welt, und als J. R. Ewing zu Boden sank, die Hand auf der Wunde, wusste J. R. Moehringer, dass ihm ein langer heißer Sommer bevorstand.


    Auch das habe ich mit J. R. gemeinsam. Die Erinnerung an Dallas. Aber da ich nicht J. R. heiße, blieben mir die folgenden Frotzeleien erspart.


    Ich könnte noch so viel über das Buch berichten, aber ich möchte euch nicht das Vergnügen nehmen, dieses tolle Buch selbst zu lesen.

    Jetzt wandert es erst einmal in mein Bücherregal zurück. Irgendwann werde ich es sicherlich noch einmal lesen. Dann wird mir auch der Anfang mehr Spaß machen, weil ich weiß, was für ein Vergnügen folgt.

    Sogar die Danksagung hat mir richtig gut gefallen, was äußerst selten vorkommt, da ich die meisten aufgezählten Namen eh nicht kenne. Diese aber ist richtig toll, und das nicht nur, weil mir hier ein bekannter Name (Will Schwalbe) untergekommen ist.


    Mittlerweile habe ich das Taschenbuch gegen ein Hardcover getauscht.


    5ratten

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • J.R. Moehringer, hätte eigentlich lieber JR geheißen und einen anderen Nachnamen hätte er auch gerne gehabt, aber dass man nur in der Bar bekommt, was man will, aber nicht im Leben, lernt er schon früh. Dabei ist der Autor mit dem Erzähler und der Hauptfigur identisch, jedenfalls soweit man das sein kann, wenn es noch ein Roman und keine Autobiographie ist.


    Wir begleiten den Erzähler beim Erwachsenwerden. So ist die Bar, das „Publican“ in einem New Yorker Vorort, in der sein Onkel arbeitet, am Anfang ein magischer Ort, dem die Helden seiner Kindheit entsteigen, denn an männlichen Vorbildern mangelt es bei abwesendem Vater und schwierigem Großvater. Während er aufwächst, sei es dort in der Nähe bei seinen Großeltern, mit der Mutter in Arizona oder später als Student in Yale, symbolisiert die Bar stets die Heimat. Und als er alt genug für das erste Bier dort ist, scheint er sie nur noch selten überhaupt zu verlassen.


    Problematisch fand ich dabei allerdings den allgegenwärtigen Alkoholismus, der nicht als Problem erscheint. So betrunken zu sein, dass man nicht weiß wie man nach Hause gekommen ist - falls man da überhaupt ankommt - wird fast das ganze Buch hindurch als etwas ganz gewöhnliches dargestellt.


    Während ich dem Kind JR noch viel verziehen habe, ging mir der junge Erwachsene ziemlich auf die Nerven. Dabei störten mich genau die Charakterzüge, die er selbst als zurückblickender Autor dann als sein damaliges Problem erkannt hatte, was mir allerdings beim Lesen nicht sehr viel nutzte, es störte mich trotzdem, wenn JR sich gefühlt selbst alles verbaut.


    Doch auch wenn mir nicht alles gefiel, ist „Tender Bar“ ein gut gemachtes Buch, mit einer Biographie, die ziemlich exemplarisch erscheint und in der man viele Vergleichspunkte zum eigenen Leben erkennen kann.


    4ratten