Peter Härtling - Das war der Hirbel

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    Klappentext:
    Bei Hirbels Geburt ist etwas falsch gemacht worden. Er hat oft Kopfschmerzen, dann schreit er und tut Dinge, worüber andere Kinder lachen. Seit Hirbel denken kann, wird er durch Heime und Kliniken geschoben. Dabie trifft er aber immer wieder auf Menschen, die ihn mögen.
    Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 1974


    Meinung:
    "Das war der Hirbel" ist ein bedrückendes Buch, es erinnert an Menschen, die abgeschoben von den meisten Menschen in Heimen leben und von deren Leben der Normalbürger nichts mitbekommt. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der durch seine Behinderung, sein Anderssein überall aneckt und nirgends zu Hause ist. Keiner ist bereit auf ihn einzugehen, ihn in seinen guten Seiten zu sehen - viel leichter ist das Abschieben von Heim zu Heim.


    Das Buch räumt auf mit pauschalen Urteilen wie "böse" solche Kinder sind, es stellt das Innenleben der Betroffenen dar. Viel zu leicht vergisst man, dass das Verhalten eines geistesgestörten Menschen nicht rational ist und er andere Menschen durch sein Verhalten ärgern will, sondern er vielmehr selbst fremdgesteuert von Impulsen und Schmerzen sich dem Tun hingeben muss.


    Es wir auch das Verhalten der anderen Kinder im Heim geschildet, ihre Versuche den Hirbel loszuwerden, ihre Angst vor ihm. Härtling schafft es durch seine Erzählung Nähe zum Hirbel aufzubauen. Sich auf seine Seite zu stellen, das Leben aus der Perspektive des Kranken zu sehen. Es lässt hoffen, dass Kinder und auch Erwachsene nach dieser Lektüre ihr Verhalten Behinderten gegenüber überdenken und das Anderssein als dieses zu akzeptieren und wertzuschätzen.


    Härtlings Buch ist schon über 30 Jahre alt, doch an Aktualität hat es keineswegs verloren. Am Ende des Buches findet sich die Aufzeichnung eines (fiktiven?) Gesprächs des Autors mit Kindern statt, in dem wichtige Fragen im Umgang mit Behinderten erörtert werden.


    Meines Erachtens ist "Das war der Hirbel" ein sehr wichtiges Buch. Glückwunsch an die SZ, dass sie dieses Buch in ihre Junge Bibliothek aufgenommen hat. Sonst wäre ich wohl nicht auf dieses Buch gestoßen.


    Einziger Minuspunkt den ich an diesem Buch finden konnte, ist die geringe Seitenanzahl - gerne hätte ich noch mehr vom Hirbel und seinem Leben und Denken erfahren.

    5ratten

  • Ich teile deine Meinung vollkommen! Ich habe das Buch zum ersten Mal gelesen, als ich ca. 12 oder 13 war. Damals war es bei uns Klassenlektüre. Und dank der SZ-Junge-Bibliothek-Reihe habe ich es dieses Jahr nochmal gelesen. Die Begeisterung ist geblieben. Hirbel ist einfach einer, den man mögen muss!

  • Auch bei mir war es Klassenlektüre, damals konnte ich aber mit dem Stoff nicht viel anfangen. Vielleicht lag es daran das wir es bei einem Lehrer lesen mussten den wir alle nicht leiden konnten. Er hat das Buch mit uns nie besprochen was ich schade fand.

  • Klassenlektüren fand ich auch immer schrecklich. Es scheint wirklich so zu sein, dass Klassenlektüren nicht die Lust am Lesen fördern, sondern die Freude an Literatur zertreten. Sehr schade! :traurig:


    Ich kann mich echt an kein Buch in der Schulzeit erinnern, dass ich mit Lust gelesen habe.


    Finde ich ja noch schrecklicher, dass ihr das Buch nicht mal besprochen habt. Denn ich finde, das Buch lässt ein Kind schon mit vielen Fragen zurück, die es mit einem Erwachsenen erörtern können sollte. :tse:


    Aber ich kann Dir echt nur raten, dass Buch doch mal zu versuchen und es aus eigenem Blickwinkel zu lesen.


    lg bane

  • Wie bane77 kann ich das Buch nur empfehlen. Gerade weil es nicht eine schöne Glitzerwelt mit Happy-End zeigt, sondern einen Teil der Realität mit all ihren schlimmen und aber auch schönen Momenten, finde ich es so toll. Allerdings sollte man sich auch bewusst sein, dass dieses Buch auf jeden Fall Anschlusskommunikation benötigt. Sprich man sollte mit seinem Kind über den Hirbel sprechen und aufkommende Fragen, wie unangenehm sie vielleicht auch sein mögen, beantworten. Peter Härtling beantwortet zwar in einem kurzen Nachwort selbst ein paar mögliche Fragen, aber ich denke, es ist doch immer besser, wenn Kinder auch mit ihren Eltern über solche Dinge reden können.


    "Das war der Hirbel" ist also kein durchweg angenehmes Buch. Es geht um einen behinderten Jungen, der sein Leben in verschiedenen Heimen verbringt, abgeschoben von seiner Mutter und der ganzen Gesellschaft. Da er sich nicht klar äußern kann, können seine Mitmenschen nur raten, was in ihm vorgeht ... wenn sie sich überhaupt soweit bemühen. Auch der Leser erfährt nicht, was in Hirbel vorgeht, aber Peter Härtling lässt immer wieder mögliche Erklärungsweisen miteinfließen. Ich finde diese Herangehensweise sehr gut geeignet, denn so muss man sich selbst Gedanken zu Hirbel machen, man beschäftigt sich fast von alleine mit kritischen Fragen. So entwickelt man ein tiefgreifendes Verständnis für Hirbel und seine Behinderung.


    Das Buch bietet übrigens nicht nur schlimme Augenblicke, sondern zeigt auch die schönen Seiten in Hirbels Leben. Dennoch ist die Geschichte eher bedrückend und am Ende bleibt ein schlechtes Gefühl. Trotzdem oder gerade deswegen finde ich dieses Buch so wichtig, denn ich finde, dass auch schon unsere Kleinen sich kritisch mit unserer Gesellschaft auseinandersetzen können. Ich kann das Buch nur uneingeschränkt empfehlen und hoffe, dass es trotz seines Alters noch viele junge Leser erreicht.
    5ratten

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

    Einmal editiert, zuletzt von mondy ()

  • Wenn ich so überlege hab ich das Buch damals auch nie so recht verstanden. Ich glaub ich hatte einfach keine Lust mich darauf einzulassen. Dabei finde ich Peter Härtling aus heutiger Sicht toll.


  • Wenn ich so überlege hab ich das Buch damals auch nie so recht verstanden. Ich glaub ich hatte einfach keine Lust mich darauf einzulassen. Dabei finde ich Peter Härtling aus heutiger Sicht toll.


    Ich habe das Buch damals als Kind auch gelesen (alleine) und ich habe es damals wahrscheinlich auch nicht verstanden. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich erkannt habe, dass Hirbel behindert ist (Härtling spricht das ja nie aus) oder ob ich ihn einfach nur für ein bisschen blöd hielt. Wie gesagt, es ist für Kinder ein schwieriges Buch, über das gesprochen werden muss.

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

  • Ja das auf jedenfall. Deshalb fand ich es auch so schade das unser Deutschlehrer das Buch letztendlich nie mit uns besprochen hat. Zu Mal Härtling das Thema ja sehr gut aufgreift und nicht zu moralisch ist (was mir in dem Alter in dem ich das Buch gelesen habe immer sehr negativ ins Auge gefallen ist wenn es mal in einem Buch vorkam.)

  • Ich habe den Hirbel als Kind immer wieder gelesen. Natürlich war es traurig und bedrückend, aber trotzdem hinterließ es mich immer mit einem Gefühl - wie soll ich es ausdrücken? - der Vollendung. Es passte einfach alles. Auch ich vergebe (aus der Erinnerung)


    5ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Meine Meinung
    Das war der Hirbel war bei mir Schullektüre, dafür aber ein anderes Buch von Peter Härtling, über das ich zum Hirbel gekommen bin. Ich kann mich erinnern, dass es bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass ich das Buch mit jemandem besprochen hätte, was ich leider nicht habe. Ich hoffe, dass meine Tochter und ich das anders machen, wenn sie aus dem Vorlesealter heraus ist.


    Die Geschichte des kleinen Jungen, bei dem so viel schief gelaufen ist, ist bedrückend. Der Hirbel wird von allen unterschätzt und das ist ihm nur recht. Er will keine Aufmerksamkeit, auch wenn sie gut wäre. Vielleicht liegt es daran, dass er kaum jemals etwas Gutes erfahren hat, wenn er aufgefallen ist.


    Was auffällt, ist die Situation im Kinderheim. Man kann nur hoffen, dass sich in den letzten 40 Jahren dort etwas grundlegend geändert hat.


    Auch wenn Das war der Hirbel ein Jugendbuch ist finde ich, dass es durchaus auch für Erwachsene geeignet ist. Ich bin auf jeden Fall ganz anders an das Buch herangegangen als zu meiner Schulzeit.
    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Es geht mir wie einigen von euch. Ich habe das Buch als bedrückend empfunden. Hirbel hat es nicht leicht, aber auch die anderen haben es mit ihm nicht leicht. Es gibt praktisch keine wirkliche Möglichkeit, ihm zu helfen. Zwar gibt es Fräulein Maier, die ihn mag, und einge Kinder die ihn mögen - im Heim gehört er ja schon irgendwie dazu, alle machen sich Sorgen, wenn er verschwindet usw. Aber das reicht nicht. Eigentlich können sie nicht viel für ihn tun. Am krassesten fand ich ja seine Mutter, die ihn einfach so abschiebt, weil er lästig ist und nicht mal eine Adresse hinterlässt, sondern nur zu Besuch kommt, wenn es ihr passt. :entsetzt:


    Hirbels Leben wird in kurzen, knappen Sätzen und sehr sparsam erzählt. So, wie sicher auch das Leben von Hirbel selbst empfunden wird: Einfachheit und nicht viele Entwicklungsmöglichkeiten. Auch ich denke, dass man mit Kindern nach der Lektüre über dieses Buch sprechen sollte. Ich finde aber die Herangehensweise des Autors gut, nicht auszusprechen, dass Hirbel behindert ist. Er schildert Hirbel so, wie er auf die Kinder wirkt. Behinderung ist ein Etikett, das ihm die Erwachsenen verpassen und das ihm so, wie die Dinge liegen auch nicht weiterhilft. Daher finde ich es gut, dass in dem kurzen Nachwort auch die andere Seite betont wird, nämlich dass Kinder wie Hirbel eigentlich eine ganz besondere Förderung und Zuwendung bräuchten, die er im speziellen Fall nicht bekommt. Weil dafür keine Ressourcen da sind, kein Bewusstsein da ist oder warum auch immer. Dass mehr in Hirbel steckt, als es zunächst den Anschein hat, wird ja deutlich, wenn er singt, und als er erklärt, wie dieses Mädchen die anderen zum Weglaufen anstiftete.


    Mein einziger Kritikpunkt ist, dass der Text vielleicht allzu knapp ist und am Ende verschwindet Hirbel einfach - man weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Sowas kommt allerdings auch im richtigen Leben vor.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Der knappe Text passt zu einem Jugendbuch, finde ich. Dass der Hirbel so einfach verschwindet, finde ich dagegen nicht schön.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.


  • Der knappe Text passt zu einem Jugendbuch, finde ich.


    Ja, aber genau dadurch entstehen Fragen, weil vieles nur angedeutet wird. Die sollten dann beantwortet werden. Als Erwachsene kann ich zwischen den Zeilen lesen, aber ob Kinder das hier können, weiß ich jetzt nicht.



    Dass der Hirbel so einfach verschwindet, finde ich dagegen nicht schön.


    Ich auch nicht. So gesehen hätte ich oben schreiben müssen, ich habe zwei Kritikpunkte. :smile:

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Sicher können Kinder nicht oder nicht zu gut zwischen den Zeilen lesen. Gerade deshalb denke ich, dass bei ihnen nicht die Fragen aufkommen wie bei einem Erwachsenen. Ich habe den Hirbel das erste Mal in der 5./6. Klasse gelesen, da habe ich viel weniger hinterfragt als bei der letzten Lektüre.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.


  • Ich habe den Hirbel als Kind immer wieder gelesen. Natürlich war es traurig und bedrückend, aber trotzdem hinterließ es mich immer mit einem Gefühl - wie soll ich es ausdrücken? - der Vollendung. Es passte einfach alles. Auch ich vergebe (aus der Erinnerung)


    5ratten


    Ich habe das Buch zufällig beim Stöbern bei amazon entdeckt, also nicht ganz gelesen.


    Was sagt Ihr denn zum Nachwort?


    Das hat mich ziemlich schockiert. Ich verstehe es so, dass der Autor damit sagt, es ist halt schlimm (in Heimen) und man kann nichts daran ändern.
    Natürlich ist das Buch nun schon recht alt.
    Auch wenn ich als persönlicher Erfahrung als Angehörige vieles am System, durch das geistig Behinderte und psychisch Kranke geschleust wurden (das ändert sich ja seit ein paar Jahren durch die Inklusion) kritisiere (vor allem Bürokratie vor dem Individuum, ungerechte Verteilung von Aufmerksamkeit und Förderung etc.) habe ich Wohnheime gesehen, in denen sich die geistig Behinderten, die dort in Trakten/ Häusern jeweils ein Zimmer bewohnten, sehr wohl fühlten und schon eine Art Familienersatz bekamen, Spaß am Leben hatten.


    Das Nachwort dieses Buches hat mich daher ziemlich deprimiert.
    Vor allem auch, dass nicht mal ein Hoffnungsschimmer auf Änderung blieb, sondern einfach der angebliche Ist-Zustand als gegeben angenommen werden sollte.
    Als Leser hätte ich den Schluss gezogen, dass man das Thema ad acta legen kann, weil sich sowieso nie etwas ändern wird.


    Eine interessante Frage aus den amazon-Rezensionen gebe ich mal an Euch weiter:
    Ist Eurer Ansicht nach der Name und der Artikel vor dem Namen einer Mundart geschuldet (der Karl, der Hirbel) oder eine Herabsetzung (ähnlich wie etwa "der Hibbel(ige)" etc.)?


    LG von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.


  • Was sagt Ihr denn zum Nachwort?


    Das hat mich ziemlich schockiert. Ich verstehe es so, dass der Autor damit sagt, es ist halt schlimm (in Heimen) und man kann nichts daran ändern.


    Das habe ich nun 180° andersrum verstanden. Der Autor schildert im Nachwort die Zustände, die dazu geführt haben, dass Hirbel so ist, wie er ist, und will in den lesenden Kindern Verständnis dafür wecken, wie es dazu gekommen ist. Kinder in dem Alter kommen da nicht unbedingt von selber drauf, solche Zusammenhänge zu erkennen. Der Autor sagt nicht, dass er diese Zustände in Ordnung findet. Im Gegenteil. Und ganz selbstverständlich ergibt sich für mich daraus, dass sie geändert werden sollten, auch wenn das jetzt nicht so deutlich formuliert wird. Die lesenden Kinder sind schließlich die Zukunft.



    Eine interessante Frage aus den amazon-Rezensionen gebe ich mal an Euch weiter:
    Ist Eurer Ansicht nach der Name und der Artikel vor dem Namen einer Mundart geschuldet (der Karl, der Hirbel) oder eine Herabsetzung (ähnlich wie etwa "der Hibbel(ige)" etc.)?


    Darüber habe ich mich auch kurz gewundert, weil ich aus dem Text nicht erkennen konnte, ob "Hirbel" der Nachname des Jungen oder ein Spitzname ist (als "Herabsetzung" würde ich das nicht bezeichnen, was ist denn schlimm an dem Namen?). Habe es dann abgetan als nicht so wichtig.

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Das habe ich nun 180° andersrum verstanden. Der Autor schildert im Nachwort die Zustände, die dazu geführt haben, dass Hirbel so ist, wie er ist, und will in den lesenden Kindern Verständnis dafür wecken, wie es dazu gekommen ist. Kinder in dem Alter kommen da nicht unbedingt von selber drauf, solche Zusammenhänge zu erkennen. Der Autor sagt nicht, dass er diese Zustände in Ordnung findet. Im Gegenteil. Und ganz selbstverständlich ergibt sich für mich daraus, dass sie geändert werden sollten, auch wenn das jetzt nicht so deutlich formuliert wird. Die lesenden Kinder sind schließlich die Zukunft.
    das nicht bezeichnen, was ist denn schlimm an dem Namen?). Habe es dann abgetan als nicht so wichtig.


    Mich hat vor allem folgende Aussagen gestört, die ich als "es wird sich sowieso nie etwas ändern" verstehe:




    Im ersten Zitat müsste erst mal "gesund" definiert werden. In Zusammenhang mit möglichen Behinderungen ist das ja ein problematischer Begriff. Menschen mit bestimmten [psychischen Problemen] "Andersartigkeiten wie bspw. Aspgerer wollen sich selbst gar nicht als defekt sehen, weder als krank noch als behindert, sondern einfach als "anders" - sie reden dann von ihrer "Seinsform". Wenn ein Problem chronisch ist, und der Betroffene es nicht als Problem wahrnimmt, kann und will er vielleicht gar nicht "gesund" werden, sondern braucht eine akzeptierende Umgebung, um sich anders zu verhalten. Wer Wutanfälle bekommt, weil er gemobbt wird, muss nicht "gesund" werden. Wenn man die Wutanfälle aber als Krankheit/ Behinderung/ Problem definieren würde, könnte man die gesamte Verantwortung an ihn zurückschieben: ER muss halt einfach "gesund" werden, dann ist doch alles okay. Die anderen müssen sich nicht ändern, die sind ja gesund.


    Diese Schlussfolgerungen halte ich bei o.g. Aussage für problematisch.


    "Das kostet Geld."... impliziert, dass angemessene, menschenfreundliche, wertschätzende Behandlung ein finanzielles Problem ist. Dem ist ja nicht zwingend so. Auch Personal in einfachen Einrichtungen ohne Sponsor kann sehr gut auf die Bewohner eingehen, je nach Personal vielleicht viel einfühlsamer als Menschen, die in viel besser ausgestatteten Heimen arbeiten.
    Hier wir mMn dem Kind ein einfacher und falscher Zusammenhang eingeredet: Wertschätzende Behandlung hängt davon ab, wie viel den Fachkräften bezahlt wird. Dem ist ja überhaupt nicht zwingend so!


    "Wer krank ist, muss gepflegt werden."
    Diese Aussage ist vermutlich zynisch gemeint, den lesenden Kindern wird hier aber wieder Alternativlositgkeit und Handlungsunfähigkeit vorgegaukelt. Man liest förmlich den Satz mit "Möchtest Du die Pflege des Hirbel übernehmen!?"
    Dass "gepflegt" werden einerseits verschiedene Formen (u.a. ja auch zu Hause) annehmen kann, dass es Ausbildungne und Weiterbildungen dafür gibt, dass man auch pflegen kann, ohne überfordert zu sein und den zu Pflegenden überfordert oder übergeht, wird nicht angesprochen und die Aussage bleibt im luftleeren Raum hängen, bereit für (Miss-?) Interpretationen.


    "Das wäre anstrengend." impliziert nun wieder, dass sich keiner der möglichen vielen Betroffenen (Eltern, Angehörige, Ärzte, Betreuer in ggf. verschiedenen Einrichtungen) bereit wäre, diese Anstrengung auf sich zu nehmen. Man kann also nichts ändern, es ist ja anstrengend.
    Dass auch viele andere Berufe, auch zu Zeiten des Erscheinens des Buches, anstrengend sind und Feinfühligkeit sowie ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung erfordern, verschweigt der Autor. Es ist auch anstrengend, Krankenpfleger bei jemandem mit chronischen Schmerzen zu sein, oder jemandem, der sich öfter übergeben muss etc. Das heißt nicht, dass diese Patienten unsensibel behandelt und weitergeschoben werden. Altenpflege ist anstrengend (und wir diskutieren seit Jahren darüber, wie man deren Bedingungen so verbessern kann, dass die Angst vor dem "Abgeschobenwerden ins Heim" unnötig wird.)
    Vor allem ist es anstrengend, für Schwerstbehinderte und andere Pflegebedürftige zu sorgen, es funktioniert aber inzwischen größtenteils innerhalb und außerhalb der Familie. Asperger sind auch für den "Ungebildeten" in vielen Fällen "anstrengenden", weil sie sich unvorhergesehen verhalten und den normalen Tagesablauf stören - trotzdem kommen die meisten durch wertschätzende, achtsame Behandlung ganz gut mit ihren Betreuern zurecht und lernen, sich in der Welt, die ihnen oft Hindernisse in den Weg stellt, zurecht zu finden.



    ______
    Das lesende Kind bleibt/ blieb aber mit diesen Fragen alleine zurück, die mögliche Verantwortung wäre zu groß, die einzige denkbare Lösung wäre nach diesen Fragen aus meiner Sicht Selbstverleugnung und Verzicht:
    Ich verzichte auf neue Straßen etc., ich gehe voll auf "schwierige" Mitmenschen ein.
    Fazit wäre mMn das gleiche, was ich leider als Schülerin aus dem "Toleranzunterricht" mitgenommen habe: Mitleid für die Betroffenen und das Gefühl, sich bei ihnen permanent entschuldigen zu müssen.
    Zusammenleben ist aber so nicht möglich. Nicht mit Schuldgefühlen.
    Und um etwas zu ändern, muss mMn aufgezeigt werden, wie es funktionieren kann/ könnte, nicht, dass es schwierig, mit Entbehrungen verbunden und überhaupt für mich als Mensch (das lesende Kind selbst) unmöglich ist.


    Die immer wieder erwähnte Szene mit der nassen Unterhose erinnert mich an eine Szene in Roger Fouts "Unsere nächsten Verwandten" (über das Washoe-Projekt). Fouts war Psychologe, arbeitete aber fast ausschließlich mit Schimpansen und lernte deren Verhaltensweisen natürlich gut kennen.
    Er schildert eine Begebenheit in einem (Institut etc.), in dem er an einem Käfig mit einem Schimpansen vorbei geht. Der Schimpanse, der nichts weiter im Käfig hat außer sich selbst, nimmt seinen Kot und wirft ihn auf Fouts. Daraufhin wird der Schimpanse von den anderen Pflegern normalerweise mit einem Wasserstrahl bestraft.
    Fouts bleibt stehen und hält die ganze Werferei aus, die länger andauert (Respekt an dieser Stelle!).
    Am Ende steht er nass und besudelt vor dem Käfig und der Schimpanse fängt an, Kontaktlaute zu erzeugen, also fruendlich Kontakt aufzunehmen. Weil er, so Fouts, vorher immer nur erlebt hatte, dass seine Verzweifelungstaten (Aggression aufgrund von Reizentzug und selbst erlebter Aggression durch die Pfleger) mit Gegenaggressionen beantwortet wurden, während hier ein Mensch mal einfach unterwürfig gewartet hat, ihm also Macht eingeräumt und demonstriert hat, dass er eben keine Aggression zeigt, wie sonst in diesen Situationen erlebt. Dazu kommt sicher noch das Problem des reizarmen Käfigs, der dem Schimpasen wohl gar keine andere Möglichkeit ließ, als sich mit seinen Fäkalien zu befassen, weil sonst nichts zum Befassen da war.


    Interessanterweise fand dieses Erlebnis von Fouts deutlich vor dem Erscheinen des "Hirbels" statt, nämlich in den 60er/ 70er Jahren.


    Eine "normale" Reaktion (jemand bewirft mich mit einer nassen Unterhose -> ich reagiere aggressiv auf ihn) muss eben nicht immer stattfinden, vor allem nicht, wenn man vorher schon über mögliche Probleme nachgedacht hat (warum verhält sich der "Aggressor" aggressiv, gibt es andere als die augenscheinlichen Gründe, wie gehe ich am besten damit um).


    Solche Überlegungen hätte ich im Nachwort erwartet (nicht mit dem Fazit, sich passiv bewerfen zu lassen, aber mit Handlungsalternativen und -erklärungen).
    Ja, man kann nicht alle "anderen" Menschen verstehen und hat sich nicht immer im Griff, man sollte aber Alternativen zur hilflosen Gegenaggression kennen. Dafür wäre so ein Nachwort mMn ein guter Anfangsort gewesen?


    LG von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Mein Sohn hatte im letzten Jahr ( da war er 8 ) einen Auszug dieses Buches in der Schule gelesen. Ich kann mich vage erinnern, glaube, es war das erste Kapitel. Er hat die Geschichte damals nicht verstanden.
    Weil mir der Text gefiel habe ich das Buch gekauft. Zusammen gelesen haben wir es erst vor einigen Wochen ( Bennet ist jetzt 9 ) und ich habe ihm dazu immer wieder erklärt, worum es ging und wie unsere Gesellschaft mit behinderten Kindern in den 70ern noch umging.
    Das Buch bietet - auch wenn es alt und vielleicht in einigen Punkten überholt ist - dennoch enormen Gesprächsstoff zwischen mir und meinem Sohn. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass meine ältere Tochter mit Kindern wie dem Hirbel arbeitet. :)
    Wir lieben das Buch, obwohl es traurig endet.