Wilhelm Raabe - Die Chronik der Sperlingsgasse

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    Ich habe eine schöne alte, illustrierte Ausgabe in Fraktur gelesen.


    Amazon Kurzbeschreibung
    Ein alter Junggeselle erzählt die Geschichte seines Lebens, seiner Gasse und ihrer Bewohner, in der Handwerker und Arbeiter neben kleinbürgerlichen, mittellosen Intellektuellen wohnen. In der Sperlingsgasse, vornehmlich in den Häusern mit der Nummer 7, 11 und 12 spielen sich die mannigfaltigsten Geschehnisse ab, an denen der Ich-Erzähler Johannes Wacholder mitfühlend und mithandelnd beteiligt ist. Da ist der gräfliche Verführer, dessen Opfer sich ertränkt. Der Sohn aus diesem Bund, Franz Ralff, wächst zusammen mit der Rektorstochter Marie Volkmann und Johannes auf. Diese drei Menschen verbindet eine lebenslange Freundschaft, obwohl Franz, Maler geworden, die auch von Johannes geliebte Marie heiratet. Als Elise, das Kind von Franz und Marie, früh ihre Eltern verliert, nimmt sich Johannes ihrer an. Ihr Spielgefährte Gustav Berg enthüllt sich als ihr Vetter, da seine Mutter eine Tochter des Grafen ist. Gustav, der sich als Maler bewährt, und Elise werden zur Freude von Johannes einlebensfrohes Paar. Dunkle Szenen geben u.a. die Erzählungen der Mutter Carsten, die in der Franzosenzeit viel Leid erfuhr, das bittere Los des Lehrers Roder und das wechselvolle Leben des Schriftstellers Dr. Wimmer.


    Meine Meinung
    Die Sperlingsgasse war ein Re-Read für mich. Das erste mal habe ich das Buch als Schüler für den Deutschunterricht gelesen. Und schon damals war ich begeistert. Raabe hat eine einfache, eingängige Sprache. Seine Protagonisten sind sehr lebendig beschrieben und durch ihre oft schrullige Art äußerst sympathisch. Jetzt beim wiederholten Lesen sind mir viele Details aufgefallen, die mir damals wohl entgangen sind (z.B. wird Jean Paul oft erwähnt, Raabe muß dessen Werk wohl gut gekannt haben). Tief versteckt im Text findet man auch die eine oder andere spitze Bemerkung über Gesellschaft und Religion. Und Raabe hat sich an mehreren Stelle sogar selbst auf die Schippe genommen.
    Das Buch kann ich uneingeschränkt empfehlen. 5ratten :tipp:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym, 2001

  • Das Buch kann ich uneingeschränkt empfehlen. 5ratten :tipp:


    Och ja. Is'n büschen sentimental, aber bedeutend noch besser als der "mittlere" Raabe, finde ich. Erst im Alter hat Raabe wieder zu der Komplexität gefunden, die er hier schon andeutet. (Andere sind anderer Meinung, was den "mittleren" Raabe betrifft, so z.B. Damaschke ...) Dennoch: Raabe ist einer meiner Lieblinge, und ich bedaure es, dass er immer weniger gelesen wird. Danke für die Rezi!

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • (Andere sind anderer Meinung, was den "mittleren" Raabe betrifft, so z.B. Damaschke ...)


    Kann man das irgendwo nachlesen?

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym, 2001

  • Kann man das irgendwo nachlesen?


    Das ist eine gute Frage. Seit rund einem halben Dutzend Jahre läuft mir Damaschke immer mal wieder über den Weg und ich habe seine Haltung zu Raabe so gespeichert. Im Raabe-Thread des Klassikerforums finde ich allerdings nur, dass er die empfehlenswerten Werke unwesentlich vor mir ansetzt, weshalb ich ihm seinerzeit auch zugestimmt habe.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ich habe die Chronik jetzt auch gelesen, in einer alten Insel-Ausgabe von 1979 mit Anmerkungen und einem Nachwort von Hans-Werner Peter.


    Eine Chronik ist hauptsächlich eine Form der Geschichtsschreibung, in der zusammenfassend und in zeitlicher Reihenfolge ein Überblick über Ereignisse oder eine Epoche gegeben wird. Die zeitliche Reihenfolge wird von Raabe aber nur bedingt eingehalten. Die Geschichte seiner Pflegetochter Elise und deren Eltern wird immer wieder unterbrochen von gegenwärtigen Ereignissen und Berichten Dritter. Nicht nur die Erzählperspektive wechselt häufig, sondern auch die Erzählweise: es gibt Briefe, Träume, Märchen, Berichte, Erzählungen. Der Chronist schildert verschiedene Episoden an ganz unterschiedlichen Schauplätzen mit einer bunten Schar von Nebenfiguren. Auch wenn manches - zumindest aus heutiger Sicht - sentimental oder kitschig erscheint wird dies doch wieder ausgeglichen durch die zeitgeschichtlichen Anknüpfungen (Krieg gegen Napoleon, Krimkrieg, Zensur, Auswanderung) und vorsichtigen aber deutlichen sozialkritischen Elementen.
    Wie BigBen schon geschrieben hat, ist es von Sprache und Stil her, sehr eingängig und leicht zu lesen und durch durch die vielen Erzählelemente auch sehr abwechslungsreich, so dass dieses Werk auch für "Klassikeinsteiger" oder als Zweitlektüre geeignet ist. Es ist empfehlenswert, eine Ausgabe mit Anmerkungen oder Kommentar zu wählen, denn neben vielen z.T. fremdsprachlichen Zitaten und Anspielungen auf literarische Werke wissen heute sicher nur noch wenige Leute, was ein Ziegenhainer ist (ein Knotenstock) oder was die Berliner mit Pfeffer- und Salzfass meinen (die Türme der beiden Kirchen am Gendarmenmarkt) :zwinker:
    Ich schließe mich daher BigBens Urteil an und vergebe ebenfalls 5ratten und hoffe, dass dieses Buch noch den ein oder anderen Leser finden wird.


    Viele Grüße
    christie

  • Ich habe die Chronik jetzt auch gelesen, in einer alten Insel-Ausgabe von 1979 mit Anmerkungen und einem Nachwort von Hans-Werner Peter.


    Alt :grmpf: ... Vor der stand ich (als Erwachsener!), als die nigelnagelneu in der Buchhandlung angeboten wurde :grmpf: ... :breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • :zunge:
    Ich darf das sagen, ich bin auch schon im vorgerückten Alter (gemessen an vielen hier im Forum), auch wenn ich 1979 noch nicht Raabe gelesen habe... :breitgrins: :zwinker:


    Viele Grüße
    christie

  • Ich habe "Die Chronik der Sperlingsgasse" in Rahmen der "Du hast doch einen Vogel"-Monatsrunde gelesen und war sehr positiv überrascht (danke, Leen, fürs Aussuchen :smile:). Meine Ausgabe ist der 1. Band der Gesammelten Werke von Nymphenburger / Bertelsmann Club von 1980, in dem auch noch "Der Hungerpastor", "Abu Telfan" und "Krähenfelder Geschichten" enthalten sind.


    Inhalt:
    Der Gelehrte Johannes Wacholder beschließt, den Winter des Jahres 1854 dazu zu nutzen, eine Chronik der Gasse anzufertigen, in der er in Berlin lebt. Im Folgenden vermischen sich aktuelle Ereignisse mit Erinnerungen aus dem Leben des alten Mannes. Roter Faden ist die Freundschaft zu Marie und Franz Ralff, deren Kind Elise Wacholder nach dem Tod der beiden annimmt und großzieht und die später mit ihrem Mann und Vetter Gustav nach Italien geht.
    Erwähnung findet aber auch die traurige Erzählung einer alten Frau, die 1806 ihre zwei Söhne auf den Schlachtfeldern Europa verlor, die Geschichte einer armen Tänzerin, die ihr sterbendes Kind zu Hause zurücklassen muss um für die Reichen zu tanzen oder das Schicksal des Journalisten Wimmer, der wegen eines "politischen Husten" außer Landes verwiesen wird und in Bayern aufschlägt, wo er bleibt und eine Familie gründet, so dass diese Chronik eines weiten Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart und vom Privaten ins Weltpolitische zieht.


    Meine Meinung:
    Ich habe vor Jahren "Die Akten des Vogelsangs" in der Schule gelesen, muss aber zu meiner Schande gestehen, dass ich mich kaum noch erinnern kann (Re-Read?) und deshalb ohne große Erwartungen und Vorstellungen an "Die Chronik der Sperllingsgasse" herangegangen bin.
    Wie schon erwähnt bin ich positiv überrascht worden; gerade die Sprünge zwischen Erinnerung und aktuellem Geschehen und die eingeschobenen Briefe oder Träume mochte ich sehr gerne. Der gerade Erzählfluss der Geschichte um Marie, Franz und deren Tochter Elise wird zwar dadurch unterbrochen, aber durch die Schicksale der anderen Bewohner der Sperlingsgasse erschließt sich so ein umfassendes Bild einer Zeit.
    An manschen Stellen vielleicht etwas rührselig, aber insgesamt ein sehr lohnenswertes Leseerlebnis.


    4ratten und :marypipeshalbeprivatmaus:

    :lesen: Anthony Powell - The Kindly Ones <br /><br />Mein SUB<br />Meine [URL=https://literaturschock.de/literaturforum/forum/index.php?thread/32348.msg763362.html#msg763362]Listen

    Einmal editiert, zuletzt von knödelchen ()

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    5ratten


    Wilhelm Raabe lässt in 'Die Chronik der Sperlingsgasse' einen älteren Mann von seinem Leben und dem der Menschen die ihn in dieser Gasse umgaben, erzählen, während er zeitgleich aktuelle Erlebnisse miteinbezieht. Es ist keine chronologisch verlaufende Geschichte, von der hier berichtet wird, stattdessen lässt sich Wachholder (so sein Name) vom Moment inspirieren, etwa beim Blick aus dem Fenster auf die Sperlingsgasse oder wenn er alte Aufzeichnungen durchsieht.
    Das Geschehen, sowohl vergangen wie auch gegenwärtig, ist nichts Aufsehenerregendes. Es geht um eine unglückliche Jugendliebe, eine dennoch fortdauernde Freundschaft, ein Kind, das Wachholder anvertraut wird und dessen Erwachsenwerden er begleitet. Naturerlebnisse werden beschrieben wie auch Ereignisse bei der Arbeit und in seiner Umgebung. Nun mögen Manche fragen, ob es sich überhaupt lohnt diese Chronik zu lesen. Ich kann nur schreiben: Ja! Denn Raabe gelingt es, in diese so alltäglichen Geschichten das ganze Weltgeschehen miteinfließen zu lassen, ohne dass man sich dessen groß bewusst wird. Für seine Zeitgenossen mag dies offensichtlicher gewesen sein als für uns, mehr als 150 Jahre später. Doch die recht umfangreichen Erläuterungen und insbesondere das schöne Nachwort von Joachim Bark helfen hierbei weiter, wobei ich persönlich Manches aus dem Nachwort noch lieber in den Erläuterungen vorgefunden hätte. Sei's drum, in jedem Fall erhält man durch das Lesen dieses Büchleins einen weitaus tieferen Einblick in die Verhältnisse dieser damaligen Gesellschaft als man das auf den ersten Blick vermuten würde.
    Und nicht ganz unerheblich: Gut geschrieben ist es zudem. Zu Beginn mag es für unsere heutigen Ohren etwas ungewöhnlich klingen, doch ich war bald mit Wachholders bzw. Raabes Erzählstil vertraut und freute mich an seinen bildhaften Beschreibungen ebenso wie an seinen humorvollen und auch selbstironischen Sätzen. Gelegentlich geraten sie vielleicht etwas ausschweifend, sodass ich Manches zweimal lesen musste, doch es ist der Mühe wert.
    Schade, dass dieser Klassiker fast schon vergessen scheint und deshalb ist es umso schöner, dass der Alfred Kröner Verlag dieses Frühwerk in einer kleinen und feinen Ausgabe mit blauem Leineneinband herausgebracht hat. Neben den Erläuterungen und dem Nachwort ist das Ganze noch mit diversen Zeichnungen von Raabe versehen - eine wirklich schöne Ausgabe, die auch noch lesenswert ist ;)

    Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden.&nbsp; &nbsp; Ludwig Feuerbach (1804 - 1872)