Kapitel I. WIEN, 25. Oktober 1912 bis 6. April 1913
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Habe begonnen und sofort wieder gemerkt, warum ich das Buch schon mal zur Seite gelegt hatte.
Es hat 224 Seiten Text und anschließend gute 60 Seiten Erläuterung. Lou schreibt tatsächlich ausschließlich im Stil eines persönlichen Tagebuches. Das heißt teilweise nahezu stichpunktartig kurzgefasst und dann wieder die damals typischen Mega-Schachtelsätze.
Interessant sind ihre eigenständigen Gedankengänge. Ihr hoher Intellekt wird sehr deutlich.
Ausschließlich zum vor Ort Studium der Psychoanalyse reist sie nach Wien.
Interessant auch, dass sie sowohl mit Freud einen sehr engen, scheinbar schon freundschaftlichen Umgang hatte. Aber ebenso Adler und Konsorten besucht hat und sich auch mit den Theorien Jungs, Stekels u.a. ausführlich und kritisch auseinandergesetzt hat. Und das alles, während die Abspaltung dieser ehemaligen Freud-Schüler/Anhänger in vollem Gange war.
Klug wie sie war, ist sie einfach offen damit umgegangen und Freud hat eine beachtliche Ausnahme für sie gemacht:
"Wir haben uns genötigt gesehen, jeden Verkehr zwischen der Adler'schen Abspaltung und unserer Gruppe zu unterbinden, und auch unsere ärztlichen Gäste sind gebeten, zwischen dem Besuch hier oder dort zu wählen. (...) Es fällt mir nicht ein, für Sie, gnädige Frau, solche Beschränkungen geltend zu machen." (Seite 23)
Jaja, unsere charmante Lou. Selbst den guten Sigmund scheint sie um den Finger gewickelt zu haben.
Keinerlei Prosa macht dieses Tagebuch natürlich sehr trocken. Noch dazu viele altbackene, hochgestochene Begrifflichkeiten in Schachtelsätzen... Ich fühle mich überfordert.
Exkurs: Habe gerade schon mal das Nachwort gelesen. Zum Stil findet sich dort folgender Hinweis:
"Eigenheiten des "Für - sich - Schreibens" blieben möglichst bestehen, wie auch gelegentliche Wiederholungen belassen wurden. Fortgelassen wurden nur wenige Stellen, die für die Sache entbehrlich waren oder bloße Tagesnotizen sind." (Seite 295)
Also gerade das bisschen Prosa, welches mir die Lektüre erleichtert hätte, wurde absichtlich weggelassen
Ansonsten setzt das Nachwort die Entstehung dieses Tagebuches bzw. Lous Faszination für die Psychoanalyse, in Bezug zu bestimmten Lebensereignissen der Autorin. Auch der Umstand, dass Gedanken zu Rilke wohl oft im Tagebuch auftauchen, wird erklärend beleuchtet.