Tomek Tryzna - Fräulein Niemand
Marysia ist ein naives und nicht besonders intelligentes Mädchen aus armen Verhältnissen, deren Familie vom Land in die Stadt zieht. Die Fünfzehnjährige steht kurz vor ihrem Schulabschluss, muss aber jetzt noch einmal die Schule wechseln. Als neue, ärmlich gekleidete und nicht sehr wortgewandte Schülerin hat sie es dort schwer, bis sich Mitschülerin Kasia ihrer annimmt.
Kasia lebt in einer großen Wohnung und hat alle Annehmlichkeiten, von denen Marysia bisher nicht einmal wusste, dass sie sie vermisst. War sie doch bisher in ihrer kleinen Welt zufrieden, in der sie sich um ihre zahlreichen Geschwister und den alkoholabhängigen Vater kümmerte, tut sich ihr durch die Freundschaft mit Kasia eine neue Welt auf. Das Mädchen hat Geld und musikalisches Talent, aber auch ein Geheimnis: in ihr lebt Dshigi, ein monsterähnlicher Junge, der sie zu bösen Taten anstiftet und Ausdruck ihrer Grausamkeit ist.
Dann beginnt auch noch Ewa, ein anderes Mädchen aus Marysias Klasse, sich für sie zu interessieren. Auch Ewa ist reich, schön und lebt in einer vollkommen anderen Welt. Ewa bringt Marysia bei, wie sich Dekadenz, Spott und Machtspiele auswirken…
In ihrer Naivität fragt sich Marysia nicht, warum diese zunächst so boshaften, aber verführerischen Mädchen sich für sie interessieren, und als sie es bemerkt, ist es längst zu spät…
„Fräulein Niemand“ wurde mir mit wärmsten Empfehlungen geschenkt. Der Roman ist einer der erfolgreichsten polnischen Romane der 90er Jahre, wurde bereits verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Der Erzählstil ist zu Beginn gewöhnungsbedürftig, Marysia spricht in ihrer zunächst einfältigen, kindlichen Sprache als Ich-Erzählerin. Mit ihrer Wandlung ändert sich aber auch der Stil des Buches, was sehr schön die Weiterentwicklung des Mädchens wiedergibt. Marysia ist auch nicht immer eine sympathische Figur, oft will man sie schütteln und ihr einen Spiegel vorhalten und ihr zeigen, was mit ihr geschieht, aber innerhalb des Kosmos des Buches sind ihre Taten nachvollziehbar.
Die Schülerin lebt zu großen Teilen in einer oft düsteren Fantasiewelt, die ohne Überleitung mit der Realität verschwimmt, und genau darin sehe ich die Stärke des Romans. Auch in Kasia und Ewa brodelt das Unheimliche, ein dunkler Horror kratzt immer wieder an der Oberfläche und verleiht der ganzen Geschichte, die doch eigentlich nur von einer Freundschaft unter Schülerinnen handelt, etwas Grausames. Wie genau sich das gestaltet, kommt erst zum Schluss heraus, aber die Anspielung des Klappentextes auf „shakespearesche Leidenschaft und Intrigen“ ist durchaus berechtigt.
Ein wunderbares Buch, das ich gerne gelesen habe.